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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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noch Sinnbilder.
    Und die sinnlichen Elendsbeschreibungen zielten auch nur auf das körperlich Eklige am Elend, ja produzierten den Ekel erst mit ihrer genießerischen Art der Beschreibung, wodurch der Ekel, statt sich in einen Tätigkeitsdrang zu verwandeln, einen bloß an die eigene Analphase erinnerte, als man noch Scheiße gegessen hatte.
    Zum Beispiel kam es in einigen Haushalten vor, daß die einzige Schüssel in der Nacht als Leibschüssel verwendetwurde und daß man am nächsten Tag darin den Teig knetete. Die Schüssel wurde sicher vorher mit kochendem Wasser ausgewaschen, und eigentlich war also nicht viel dabei: aber einfach, indem man den Vorgang beschrieb , wurde er auch verekelt: »Sie verrichten die Notdurft in den gleichen Topf, aus dem sie dann essen.« – »Brr!« Wörter vermitteln ja diese Art von passiv-wohligem Ekel viel eher als der bloße Anblick der von ihnen bezeichneten Sachen. (Eigene Erinnerung, jeweils bei der literarischen Beschreibung von Eidotterflecken auf Morgenmänteln zusammengeschauert zu sein.) Daher mein Unbehagen bei Elendsbeschreibungen; denn an der reinlichen, doch unverändert elenden Armut gibt es nichts zu beschreiben.
    Beim Wort »Armut« denke ich also immer: es war einmal; und man hört es ja auch meist aus dem Mund von Personen, die es überstanden haben, als ein Wort aus der Kindheit; nicht »Ich war arm«, sondern »Ich war ein Kind armer Leute« (Maurice Chevalier); ein niedlichputziges Memoirensignal. Aber bei dem Gedanken an die Lebensbedingungen meiner Mutter gelingt mir nicht diese Erinnerungshäkelei. Von Anfang an erpreßt, bei allem nur ja die Form zu wahren: schon in der Schule hieß für die Landkinder das Fach, das den Lehrern bei Mädchen das allerwichtigste war, »Äußere Form der schriftlichen Arbeiten«; später fortgesetzt in der Aufgabe derFrau, die Familie nach außenhin zusammenzuhalten; keine fröhliche Armut, sondern ein formvollendetes Elend; die täglich neue Anstrengung, sein Gesicht zu behalten, das dadurch allmählich seelenlos wurde. Vielleicht hätte man sich im formlosen Elend wohler gefühlt, wäre zu einem minimalen proletarischen Selbstbewußtsein gekommen. Aber in der Gegend gab es keine Proletarier, nicht einmal Proleten, höchstens lumpige Armenhäusler; niemand, der frech wurde; die gänzlich Ausgebrannten genierten sich nur, die Armut war tatsächlich eine Schande.
    Meiner Mutter war das immerhin so wenig selbstverständlich geworden, daß die ewige Nötigung sie erniedrigen konnte. Einmal symbolisch gesprochen: sie gehörte nicht mehr zu den EINGEBORENEN , DIE NOCH NIE EINEN WEISSEN GESEHEN HATTEN , sie war imstande, sich ein Leben vorzustellen, das nicht nur lebenslängliches Haushalten war. Es brauchte nur jemand mit dem kleinen Finger zu winken, und sie wäre auf die richtigen Gedanken gekommen.
    Hätte, wäre, würde.
    Was wirklich geschah:
    Ein Naturschauspiel mit einem menschlichen Requisit, das dabei systematisch entmenscht wurde. Ein Bittgang nach dem andern zum Bruder, die Entlassung des trunksüchtigen Ehemanns noch einmal rückgängig zu machen; ein Anflehen des Schwarzhörer-Aufspürers, von einer Anzeige wegen des nichtangemeldeten Rundfunkapparats doch abzustehen; die Beteuerung, sich eines Wohnbaudarlehens auch ja als Staatsbürgerin würdig zu erweisen; der Weg von Amt zu Amt, um sich die Bedürftigkeit bestätigen zu lassen; der jährlich von neuem benötigte Mittellosigkeitsnachweis für den inzwischen studierenden Sohn; Ansuchen um Krankengeld, Kinderbeihilfe, Kirchensteuerermäßigung – das meiste im gnädigen Ermessen, aber auch das, auf was man gesetzlichen Anspruch hatte, mußte man immer wieder so genau nachweisen, daß man das endliche Genehmigt! dankbar als Gnadenerweis nahm.
    Keine Maschinen im Haus; alles wurde noch mit der Hand gemacht. Gegenstände aus einem vergangenen Jahrhundert, im allgemeinen Bewußtsein verklärt zu Erinnerungsstücken: nicht nur die Kaffeemühle, die ja ohnedies ein liebgewordenes Spielzeug war – auch die BEHÄBIGE Waschrumpel, der GEMÜTLICHE Feuerherd, die an allen Ecken geflickten LUSTIGEN Kochtöpfe, der GEFÄHRLICHE Schürhaken, der KECKE Leiterwagen, die TATENDURSTIGE Unkrautsichel, die von den RAUHBEINIGEN Scherenschleifern im Lauf der Jahre fast bis zur stumpfen Seite hin zerschliffenen BLITZBLANKEN Messer, der NECKISCHE Fingerhut, der TOLPATSCHIGE Stopfpilz, das BULLIGE Bügeleisen, das für Abwechslung sorgte, indem es immer wieder zum Nachwärmen auf die

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