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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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der glorreiche Rosenkranz; das Erntedankfest; die Volksabstimmungsfeier; die Damenwahl; das Bruderschafttrinken; das In-den-April-Schicken; die Totenwache; der Silvesterkuß: – in diesen Formen veräußerlichten privater Kummer, Mitteilungsdrang, Unternehmungslust, Einmaligkeitsgefühl, Fernweh, Geschlechtstrieb, überhaupt jedes Gedankenspiel mit einer verkehrten Welt, in der alle Rollen vertauscht wären, und man war sich selber kein Problem mehr.
    Spontan zu leben – am Werk tag spazierengehen, sich ein zweites Mal verlieben, als Frau allein im Gasthaus einen Schnaps trinken –, das hieß schon, eine Art von Unwesen treiben; »spontan« stimmte man höchstens in einen Gesang ein oder forderte einander zum Tanz auf.
    Um eine eigene Geschichte und eigene Gefühle betrogen, fing man mit der Zeit, wie man sonst von Haustieren, zum Beispiel Pferden, sagte, zu »fremdeln« an: man wurde scheu und redete kaum mehr, oder wurde ein bißchen verdreht und schrie in den Häusern herum.
    Die erwähnten Riten hatten dann eine Trostfunktion. Der Trost: er ging nicht etwa auf einen ein, man ging vielmehr in ihm auf; war endlich damit einverstanden, daß man als Individuum nichts, jedenfalls nichts Besonderes war.
    Man erwartete endgültig keine persönlichen Auskünfte mehr, weil man kein Bedürfnis mehr hatte, sich nach etwas zu erkundigen. Die Fragen waren alle zu Floskeln geworden, und die Antworten darauf waren so stereotyp, daß man dazu keine Menschen mehr brauchte, Gegenstände genügten: das süße Grab, das süße Herz Jesu, die süße schmerzensreiche Madonna verklärten sich zu Fetischen für die eigene, die täglichen Nöte versüßendeTodessehnsucht; vor diesen tröstlichen Fetischen verging man. Und durch den täglich gleichförmigen Umgang mit immer denselben Sachen wurden auch diese einem heilig; nicht das Nichtstun war süß, sondern das Arbeiten. Es blieb einem ohnehin nichts anderes übrig.
    Man hatte für nichts mehr Augen. »Neugier« war kein Wesensmerkmal, sondern eine weibliche oder weibische Unart.
    Aber meine Mutter hatte ein neugieriges Wesen und kannte keine Trostfetische. Sie versenkte sich nicht in die Arbeit, verrichtete sie nur nebenbei und wurde so unzufrieden. Der Weltschmerz der katholischen Religion war ihr fremd, sie glaubte nur an ein diesseitiges Glück, das freilich wiederum nur etwas Zufälliges war; sie selber hatte zufällig Pech gehabt.
    Sie würde es den Leuten noch zeigen!
    Aber wie?
    Wie gern wäre sie richtig leichtsinnig gewesen! Und dann wurde sie einmal wirklich leichtsinnig: »Heute war ich leichtsinnig und habe mir eine Bluse gekauft.« Immerhin, und das war in ihrer Umgebung schon viel, gewöhnte sie sich das Rauchen an und rauchte sogar in der Öffentlichkeit.
    Viele Frauen in der Gegend waren heimliche Trinkerinnen; ihre dicken schiefen Lippen stießen sie ab: damit konnte man es niemandem zeigen. Höchstens wurde siebeschwipst – und trank dann mit jemandem Bruderschaft. Auf diese Weise stand sie bald mit den jüngeren Honoratioren auf du und du. Sie war in der Gesellschaft, die sich sogar in dem kleinen Ort, aus den wenigen Bessergestellten, gebildet hatte, gern gesehen. Einmal gewann sie als Römerin auf einem Kostümball den ersten Preis. Zumindest beim Vergnügen gab sich die ländliche Gesellschaft klassenlos, sofern man nur GEPFLEGT und LUSTIG UND FIDEL war.
    Zu Hause war sie »die Mutter«, auch der Ehemann nannte sie öfter so als bei ihrem Vornamen. Sie ließ es sich gefallen, das Wort beschrieb das Verhältnis zu ihrem Mann auch besser; er war ihr nie so etwas wie ein Schatz gewesen.
    Sie war es nun, die sparte. Das Sparen konnte freilich kein Beiseitelegen von Geld sein wie bei ihrem Vater, es mußte ein Absparen sein, ein Einschränken der Bedürfnisse so weit, daß diese bald als GELÜSTE erschienen und noch weiter eingeschränkt wurden.
    Aber auch innerhalb dieses kümmerlichen Spielraums beschwichtigte man sich damit, daß man zumindest das Schema einer bürgerlichen Lebensführung nachahmte: noch immer gab es eine wenn auch lachhafte Einteilung der Güter in notwendige, bloß nützliche und luxuriöse.
    Notwendig war dann nur das Essen; nützlich das Heizmaterial für den Winter; alles andere war schon Luxus.
    Daß dafür noch einiges übrigblieb, half wenigstens einmal in der Woche zu einem kleinen stolzen Lebensgefühl: »Uns geht es immer noch besser als anderen.« Man leistete sich also folgenden Luxus: eine Kinokarte in der neunten Reihe und danach

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