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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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kommt; von Traumvorgängen, so gräßlich, daß man sie leibhaftig als Würmer im Bewußtsein erlebt. Atemstocken, erstarren, »eine eisige Kälte kroch mir den Rücken hinauf, die Haare sträubten sich mir im Nacken« – immer wieder Zustände aus einer Gespenstergeschichte, beim Aufdrehen eines Wasserhahns, den man schleunigst wieder zudrehte, am Abend auf der Straße mit einer Bierflasche in der Hand, nur eben Zustände, keine runde Geschichte mit einem zu erwartenden, so oder so tröstlichen Ende.
    Höchstens im Traumleben wird die Geschichte meiner Mutter kurzzeitig faßbar: weil dabei ihre Gefühle so körperlich werden, daß ich diese als Doppelgänger erlebe und mit ihnen identisch bin; aber das sind gerade die schon erwähnten Momente, wo das äußerste Mitteilungsbedürfnis mit der äußersten Sprachlosigkeit zusammentrifft. Deswegen fingiert man die Ordentlichkeit eines üblichen Lebenslaufschemas, indem man schreibt: »Damals – später«, »Weil – obwohl«, »war – wurde – wurde nichts« und hofft, dadurch der Schreckensseligkeit Herr zu werden. Das ist dann vielleicht das Komische an der Geschichte.)
    Im Frühsommer 1948 verließ meine Mutter mit dem Ehemann und den zwei Kindern, das knapp einjährige Mädchen in einer Einkaufstasche, ohne Papiere den Ostsektor. Sie überquerten heimlich, jeweils im Morgengrauen, zwei Grenzen, einmal ein Haltruf eines russischen Grenzsoldaten und als Losungswort die slowenische Antwort der Mutter, für das Kind ab damals eine Dreiheit von Morgendämmerung, Flüstern und Gefahr, eine fröhliche Aufregung auf der Eisenbahnfahrt durch Österreich, und wieder wohnte sie in ihrem Geburtshaus, wo man ihr und ihrer Familie in zwei kleinen Kammern Quartier einräumte. Der Ehemann wurde als erster Arbeiter beim Zimmermeisterbruder eingestellt, sie selber wieder ein Teil der früheren Hausgemeinschaft.
    Anders als in der Stadt war sie hier stolz, daß sie Kinder hatte, und zeigte sich auch mit ihnen. Sie ließ sich von niemandem mehr etwas sagen. Früher hatte sie höchstens ein bißchen zurückgeprotzt; jetzt lachte sie die anderen einfach aus. Sie konnte jeden so auslachen, daß er ziemlich still wurde. Vor allem der Ehemann wurde, sooft er von seinen vielen Vorhaben erzählte, jedesmal so scharf ausgelacht, daß er bald stockte und nur noch stumpf zum Fenster hinausschaute. Freilich fing er am nächsten Tag frisch davon an. (In diesen Auslachgeräuschen der Mutter wird die Zeit damals wieder lebendig!) So unterbrach sie auch die Kinder, wenn die sich etwas wünschten, indem sie sie auslachte; denn es war lächerlich, ernstlich Wünsche zu äußern. Inzwischen brachte sie das dritte Kind zur Welt.
    Sie nahm wieder den heimischen Dialekt an, wenn auch nur spielerisch: eine Frau mit AUSLANDSERFAHRUNG . Auch die Freundinnen von früher lebten inzwischen fast alle wieder in dem Geburtsort; in die Stadt und über die Grenzen waren sie nur kurz einmal ausgeflogen.
    Freundschaft in dieser zum Großteil aufs Wirtschaften und pure Auskommen beschränkten Lebensform bedeutete höchstens, daß man miteinander vertraut war, nicht aber, daß man dem andern auch etwas anvertraute. Es war ohnehin klar, daß jeder die gleichen Sorgen hatte – man unterschied sich nur darin, daß der eine sie halt leichter nahm und der andere schwerer, es war alles eine Temperamentssache.
    Leute in dieser Bevölkerungsschicht, die gar keine Sorgen hatten, wurden wunderlich; Spinner. Die Betrunkenen wurden nicht redselig, nur noch schweigsamer, schlugen vielleicht Krach oder jauchzten einmal, versanken wieder in sich selber, bis sie in der Polizeistunde plötzlich rätselhaft zu schluchzen begannen und den Nächststehenden umarmten oder verprügelten.
    Es gab nichts von einem selber zu erzählen; auch in der Kirche bei der Osterbeichte, wo wenigstens einmal im Jahr etwas von einem selber zu Wort kommen konnte, wurden nur die Stichworte aus dem Katechismus hingemurmelt, in denen das Ich einem wahrhaftig fremder als ein Stück vom Mond erschien. Wenn jemand von sich redete und nicht einfach schnurrig etwas erzählte, nannte man ihn »eigen«. Das persönliche Schicksal, wenn es sich überhaupt jemals als etwas Eigenes entwickelt hatte, wurde bis auf Traumreste entpersönlicht und ausgezehrt in den Riten der Religion, des Brauchtums und der guten Sitten, so daß von den Individuen kaum etwas Menschliches übrigblieb; »Individuum« war auch nur bekannt als ein Schimpfwort.
    Der schmerzensreiche Rosenkranz;

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