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Wunschloses Unglück - Erzählung

Wunschloses Unglück - Erzählung

Titel: Wunschloses Unglück - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ein Glas gespritzten Wein; eine Tafel Bensdorp-Schokolade um einen oder zwei Schilling für die Kinder am nächsten Morgen; einmal im Jahr eine Flasche selbsterzeugten Eierlikör; manchmal im Winter sonntags den Schlagrahm, den man die Woche hindurch gesammelt hatte, indem man den Milchtopf über Nacht jeweils zwischen die beiden Winterfensterscheiben stellte. War das dann ein Fest! würde ich schreiben, wenn das meine eigene Geschichte wäre; aber es war nur das sklavenhafte Nachäffen einer unerreichbaren Lebensart, das Kinderspiel vom irdischen Paradies.
    Weihnachten: das, was ohnedies nötig war, wurde als Geschenk verpackt. Man überraschte einander mit dem Notwendigen, mit Unterwäsche, Strümpfen, Taschentüchern, und sagte, daß man sich gerade das auch GEWÜNSCHT hätte! Auf diese Weise spielte man bei fast allem, außer beim Essen, den Beschenkten; ich war aufrichtig dankbar zum Beispiel für die notwendigsten Schulsachen, legte sie wie Geschenke neben das Bett.
    Ein Leben nicht über die Verhältnisse, von Monatsstunden bestimmt, die sie für den Ehemann zusammenrechnete, gierig auf ein halbes Stündchen hier und dort, Furcht vor einer kaum bezahlten Regenschicht, wo der Mann dann schwatzend neben ihr in dem kleinen Raum saß oder beleidigt aus dem Fenster stierte.
    Im Winter die Arbeitslosenunterstützung für das Baugewerbe, die der Mann fürs Trinken ausgab. Von Gasthaus zu Gasthaus, um ihn zu suchen; schadenfroh zeigte er ihr dann den Rest. Schläge, unter denen sie wegtauchte; sie redete nicht mehr mit ihm, stieß so die Kinder ab, die sich in der Stille ängstigten und an den zerknirschten Vater hängten. Hexe! Die Kinder schauten feindselig, weil sie so unversöhnlich war. Sie schliefen mit klopfendem Herzen, wenn die Eltern ausgegangen waren, verkrochen sich unter die Decke, sobald gegen Morgen der Mann die Frau durch das Zimmer stieß. Sie blieb immer wieder stehen, trat einen Schritt vor, wurde kurzerhand weitergestoßen, beide in verbissener Stummheit, bis sie endlich den Mund aufmachte und ihm den Gefallen tat: »Du Vieh! Du Vieh!«, worauf er sie dann richtig schlagen konnte, worauf sie ihn nach jedem Schlag kurz auslachte.
    Sonst schauten sie einander kaum an, in diesen Momenten der offenen Feindschaft aber, er von unten herauf, sie von oben herab, blickten sie sich unentwegt tief in dieAugen. Die Kinder unter der Decke hörten nur das Geschiebe und Geatme und manchmal das Schüttern des Geschirrs in der Kredenz. Am nächsten Morgen machten sie sich dann das Frühstück selber, während der Mann ohnmächtig im Bett lag und die Frau neben ihm sich mit geschlossenen Augen schlafend stellte. (Sicher: diese Schilderungsform wirkt wie abgeschrieben, übernommen aus anderen Schilderungen; austauschbar; ein altes Lied; ohne Beziehung zur Zeit, in der sie spielt; kurz: »19. Jahrhundert«; – aber das gerade scheint notwendig; denn so verwechselbar, aus der Zeit, ewig einerlei, kurz, 19. Jahrhundert, waren auch noch immer, jedenfalls in dieser Gegend und unter den skizzierten wirtschaftlichen Bedingungen, die zu schildernden Begebenheiten. Und heute noch die gleiche Leier: am Schwarzen Brett im Gemeindeamt sind fast nur Wirtshausverbote angeschlagen.)
    Sie lief nie weg. Sie wußte inzwischen, wo ihr Platz war. »Ich warte nur, bis die Kinder groß sind.« Eine dritte Abtreibung, diesmal mit einem schweren Blutsturz. Kurz vor ihrem vierzigsten Lebensjahr wurde sie noch einmal schwanger. Eine weitere Abtreibung war nicht mehr möglich, und sie trug das Kind aus.
    Das Wort »Armut« war ein schönes, irgendwie edles Wort. Es gingen von ihm sofort Vorstellungen wie aus alten Schulbüchern aus: arm, aber sauber. Die Sauberkeit machte die Armen gesellschaftsfähig. Der soziale Fortschritt bestand in einer Reinlichkeitserziehung; waren die Elenden sauber geworden, so wurde »Armut« eine Ehrenbezeichnung. Das Elend war dann für die Betroffenen selber nur noch der Schmutz der Asozialen in einem anderen Land.
    »Das Fenster ist die Visitenkarte des Bewohners.« So gaben die Habenichtse gehorsam die fortschrittlich zu ihrer Sanierung bewilligten Mittel für ihre eigene Stubenreinheit aus. Im Elend hatten sie die öffentlichen Vorstellungen noch mit abstoßenden, aber gerade darum konkret erlebbaren Bildern gestört, nun, als sanierte, gesäuberte »ärmere Schicht«, wurde ihr Leben so über jede Vorstellung abstrakt, daß man sie vergessen konnte. Vom Elend gab es sinnliche Beschreibungen, von der Armut nur

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