. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
bin auf der Suche nach einem jungen Mädchen.«
»Wohnt sie hier irgendwo in der Gegend?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Morse. »Ich kann nicht einmal sagen, ob sie überhaupt in London lebt. Keine gute Voraussetzung, sie zu finden, was?« Er lächelte etwas.
»Aber man hat sie kürzlich hier gesehen?«
»Nein«, sagte Morse. »Sie ist seit zwei Jahren schon nicht mehr gesehen worden.«
»Oh, ich verstehe, Sir«, sagte der junge Wachtmeister verwirrt. »Dann kann ich wohl doch nichts für Sie tun. Gute Nacht, Sir.« Er tippte an seinen Helm und setzte seine Runde fort, vorbei an den schreienden Leuchtreklamen der Nachtclubs und den provozierenden Auslagen der Porno-Buchläden.
»Nein«, sagte Morse leise zu sich selbst, »das können Sie wohl nicht.« Er ließ den Motor an und fuhr über Shepherd’s Bush in Richtung auf die M 40. Kurz vor Mitternacht war er wieder im Präsidium.
Es wäre ihm nicht eingefallen, gleich nach Hause zu fahren. Auch wenn er keine Erklärung dafür hatte, war er sich völlig der merkwürdigen Tatsache bewußt, daß sein Verstand immer gerade dann besonders gut funktionierte, wenn er eine Niederlage erlitten hatte. Während der ganzen Rückfahrt nach Oxford hatte er wie ein Schachgroßmeister, der in einer bedeutenden Partie geschlagen worden war, alle Züge und die Beweggründe für die Züge kritisch Revue passieren lassen, die zu dem Desaster geführt hatten. Und schon begann ein neuartiger Gedanke in ihm Gestalt anzunehmen, und er konnte es kaum erwarten, wieder an seinem Schreibtisch zu sitzen.
Um drei Minuten vor Mitternacht brütete er schon wieder über den Unterlagen zum Fall Taylor. Er arbeitete mit höchster Anspannung, wie ein Schauspieler, der als zweite Besetzung im letzten Moment für einen Kollegen einspringen und in wenigen Minuten den Text eines langen Monologs lernen muß.
Nachts um halb drei kam der diensttuende Sergeant mit einer dampfenden Tasse Kaffee und klopfte an seine Tür. Er sah, wie Morse, beide Hände flach an die Ohren gelegt, an seinem mit Papier übersäten Schreibtisch saß; sein Gesicht zeigte einen Ausdruck derartiger Konzentration, daß er mucksmäuschenstill das Tablett abstellte, leise die Tür wieder schloß und ging.
Um halb fünf kam er noch einmal, setzte sorgfältig eine zweite Tasse Kaffee neben die erste, die noch da stand, wo er sie hingestellt hatte, kalt, nicht angerührt. Jetzt schlief Morse fest. Sein Kopf war gegen die hohe Lehne seines schwarzen Ledersessels gefallen, der Kragen aufgeknöpft, und sein Gesicht zeigte einen fast kindlichen Ausdruck von Ruhe und Frieden …
Lewis hatte sie gefunden, sie lag auf dem Rücken, gleichgü l tig, so als gehe sie das alles nichts mehr an. Sie war vol l ständig bekleidet, ihr linker Arm lag ausgestreckt über i h rem Körper, das Handgelenk wies tiefe Schnitte auf . Auf der Bettdecke stand ein See roten Bluts und sickerte langsam in die darunterliegende Matratze. In der rechten Hand hielt sie das Messer, ein großes Fleischmesser mit hölzernem Griff, Marke Prestige, ungefähr 35 cm lang, dessen Schneide scharf wie ein Rasiermesser war.
Kapitel Vierunddreißig
Die Dinge sind nicht immer, was sie zu sein scheinen;
der erste Blick täuscht viele
Phaidros
Als Lewis sich um acht zum Dienst zurückmeldete, saß Morse schon frisch rasiert an seinem Schreibtisch. Angesichts der Neuigkeiten, die Morse für ihn hatte, gelang es dem Sergeant nur schlecht, seine Enttäuschung zu verbergen, und er verstand nicht ganz, wie der Inspector da so munter sein konnte. Seine Stimmung hob sich jedoch, als Morse ihm über die Aussage Yvonne Bakers berichtete. Der Inspector hatte mehrere Aufgaben für ihn, darunter eine Reihe von Telefongesprächen, und Lewis glaubte zu verstehen, worauf Morse’ Anweisungen abzielten.
Um halb zehn war er mit allem fertig.
»Trauen Sie sich zu zu fahren, Sergeant?« fragte Morse.
»Eigentlich schon, Sir, aber …«
»Einverstanden. Ich fahre hin, und Sie fahren zurück. Abgemacht?«
»Wann, dachten Sie, daß wir aufbrechen sollen, Sir?«
»Jetzt gleich«, sagte Morse. »Rufen Sie Ihre Frau an, und sagen Sie ihr, daß wir so gegen, äh …«
»Ich hätte da vielleicht einen Vorschlag zu machen, Sir.«
»Ja, was denn? Schießen Sie los.«
»Falls Valerie Taylor wirklich in dieser Abtreibungsklinik war …«
»Sie war«, sagte Morse bestimmt. »Daran kann überhaupt kein Zweifel mehr bestehen.«
»… dann muß sie doch jemand hingefahren
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