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Acum spreche, jemandem einen kleinen Besuch abstatten.« Er fuhr nach Süden, kam zu dem Dorf Bont-Newydd, wandte sich auf der Hauptstraße nach links und hielt vor einem Haus mit hellblau gestrichener Haustür.
»Warten Sie im Wagen auf mich.«
Er stieg aus, ging den schmalen Gartenweg hinauf bis zur Tür und klopfte. Alles blieb ruhig. Er klopfte noch einmal. Acum würde natürlich sowieso nicht da sein – der saß fünf Kilometer weiter auf dem Präsidium und wartete darauf, von ihm verhört zu werden. Aber Mrs. Acum? Er ging zum Wagen zurück. Lewis fragte sich, warum sein Chef auf einmal eine solche Leichenbittermiene machte.
»Keiner da, Sir?«
Morse schien ihn nicht zu hören. Er sah sich fortwährend um, blickte abwechselnd aus dem Fenster und dann wieder in den Rückspiegel. Die Straße lag verlassen in der herbstlichen Nachmittagssonne.
»Wird es nicht zu spät für Acum, Sir?«
»Acum?« Morse zuckte zusammen, als sei er mit seinen Gedanken weit weg gewesen. »Um Acum brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Der wird das alles schon überleben.«
»Wollen wir hier noch länger stehen bleiben, Sir?«
»Woher soll ich das wissen?« blaffte Morse.
»Na, wenn es noch länger dauert, dann kann ich ja mal gerade …« Er öffnete die Tür und begann seinen Sicherheitsgurt abzustreifen.
»Bleiben Sie sitzen!« Das war ein Befehl, und Lewis gehorchte und zog die Tür wieder zu.
»Falls wir hier auf Mrs. Acum warten – wäre es nicht möglich, daß sie ihren Mann begleitet hat?«
Morse schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.«
Die Minuten verrannen. Schließlich sagte Morse: »Versuchen Sie es noch mal, Lewis.«
Aber Lewis hatte auch nicht mehr Erfolg. Er kam zurück und schlug mit allen Anzeichen von Erbitterung die Wagentür hinter sich zu. Es war schon nach halb drei.
»Geben wir ihr noch eine Viertelstunde«, sagte Morse.
»Aber, was wollen Sie denn von ihr, Sir? Sie hat doch bisher während der ganzen Ermittlungen überhaupt keine Rolle gespielt. Wir wissen von ihr nicht viel mehr als ihren Namen.«
Morse wandte dem Sergeant das Gesicht zu, sah ihn mit durchdringendem Blick an und sagte: »Da irren Sie sich, Sergeant. Wir wissen über sie mehr – sogar viel mehr als über alle anderen Beteiligten. Die Person, die hier als Mrs. Acum mit David Acum zusammenlebt, ist in Wahrheit gar nicht seine Frau – sondern das Mädchen, nach dem wir die ganze Zeit gesucht haben.« Er hielt inne, um dem Sergeant Gelegenheit zu geben, diese Neuigkeit zu verdauen. »Ja, Lewis, wir warten hier auf Valerie Taylor.«
Kapitel Fünfunddreißig
» Jetzt hör zu, du kleiner Taugenichts «, flüsterte Sikes.
» Geh leise die Stufen direkt vor dir hinauf und durch die kleine Vorhalle bis zur Haustür, riegele sie auf und laß uns rein .«
Charles Dickens, Oliver Twist
Lewis starrte Morse mit offenem Mund an, und es dauerte einige Zeit, bis er halbwegs zu begreifen schien. »Aber das kann doch nicht …«
»Doch, es ist wahr. Ich nehme keins meiner Worte zurück.«
Lewis, in der weisen Einsicht, daß er völlig außerstande war, jetzt auch nur einen halbwegs intelligenten Kommentar abzugeben, beschränkte sich darauf, durch die Zähne zu pfeifen.
»Da lohnt es sich schon, etwas länger hierzubleiben, was? Nach der ganzen Zeit kommt es auf eine Stunde nun auch nicht mehr an.«
Nachdem sich der erste Schock allmählich gelegt hatte, begann Lewis die Implikationen zu überdenken. Wenn das Mädchen, das dort wohnte, Valerie Taylor war, so bedeutete das … das hieß dann also … aber er befand sich noch immer in einer Art Betäubung, und die Denkprozesse liefen alle nur sehr verzögert ab, so daß er es aufgab. »Ich finde, Sie könnten mir ruhig erzählen, wie Sie daraufgekommen sind, Sir«, wandte er sich an Morse.
»Wo soll ich anfangen?« fragte Morse zurück. Seine Laune schien sich gebessert zu haben.
»Also, zunächst würde ich gern mal wissen, was überhaupt aus der echten Mrs. Acum geworden ist.«
»Tja, Lewis, so ganz genau weiß ich das auch nicht. Noch nicht. Aber ich habe so meine Vermutungen. Sie könnten jetzt natürlich zu Recht einwenden, Lewis, daß ich während dieses Falles davon schon mehr als genug gehabt habe – und alle falsch. Aber ich glaube, diesmal entsprechen sie in etwa dem, was wirklich geschehen ist.«
»Was wissen wir eigentlich von Mrs. Acum? Sehr adrett, vielleicht ein bißchen streng. Sie hat eine sehr schlanke, fast knabenhafte Figur und
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