. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
weiß es nicht.« Morse erhob sich. »Und ich will Ihnen ganz ehrlich sagen, Lewis, es ist mir auch scheißegal. Wer auch immer Baines umgebracht hat – er verdiente eine lebenslange Rente, nicht eine lebenslange Strafe.«
»Aber darum haben wir doch trotzdem die Pflicht, herauszufinden, wer es getan hat, Sir.«
»Ich nicht mehr. Ich habe die Schnauze voll von dem Fall – und überlegen Sie doch mal, was ich die ganzen Wochen mit meiner Arbeit erreicht habe – nichts. Ich werde morgen früh zu Strange gehen und ihn bitten, mich von dem Fall zu entbinden.«
»Das wird ihn nicht gerade freuen.«
»Ich bin ja schließlich nicht auf der Welt, um ihm Freude zu machen.«
»So etwas sieht Ihnen eigentlich gar nicht ähnlich, Sir.«
Morse setzte ein reuiges kleines Lächeln auf. »Jetzt sind Sie enttäuscht von mir, Lewis, oder?«
»Ja. Ein bißchen schon – jedenfalls wenn Sie jetzt einfach alles hinschmeißen.«
»Dazu bin ich aber nach wie vor fest entschlossen.«
»Ich verstehe.«
»Das Leben ist eine einzige Kette von Enttäuschungen, Lewis. Das sollten Sie doch mittlerweile gelernt haben.«
Morse ging allein zurück in sein Büro. Um ehrlich zu sein, er war mehr als nur ein bißchen verletzt durch Lewis’ Worte. Er hatte recht, natürlich, und er hatte auch alle Vernunft und Moral auf seiner Seite, wenn er in seiner ruhigen Art sagte: Aber darum haben wir doch trotzdem die Pflicht, h e rausz u finden, wer es getan hat. Ja, das wußte er. Aber hatte er es nicht versucht und immer wieder versucht und hatte es eben nicht herausgefunden? Wenn man es recht bedachte, hatte er noch nicht einmal herausgefunden, ob Valerie Taylor am Leben oder tot war … Eben hatte er versucht, Sheila Phillipson Glauben zu schenken; aber es war ihm einfach unmöglich. Egal – wenn sie tatsächlich die Wahrheit sagte, war es besser, ein anderer schloß diesen Fall ab. Viel besser. Und wenn sie nur ihren Mann damit schützen wollte …? Daran mochte er jetzt nicht denken. Er hatte Lewis gebeten, Phillipson aufzusuchen, aber der Direktor war weder zu Hause noch in der Schule; im Moment kümmerten sich Nachbarn um die Kinder.
Was auch geschah, mit diesem Dienstagnachmittag endete für ihn, Morse, diese Geschichte. Er dachte zurück an jenen anderen Dienstagnachmittag, damals in Phillipsons Büro … Was hatte er denn nur außer acht gelassen bei diesem Fall? Welches kleine und scheinbar unbedeutende Detail, das ihn auf die richtige Fährte gebracht hätte? Eine halbe Stunde lang zerbrach er sich den Kopf, aber es kam nichts dabei heraus. Es war sinnlos. Er war erschöpft und keines neuen Gedankens mehr fähig. Jawohl, morgen früh wollte er zu Strange und ihm den Fall zurückgeben. Schließlich war er ja noch Herr seiner Entschlüsse, gleichgültig, was Lewis darüber dachte.
Er ging hinüber zum Aktenschrank und nahm zum letztenmal alle Unterlagen zu diesem Fall heraus. Inzwischen füllten sie zwei Ordner, die beinahe platzten. Morse löste an beiden die stählernen Klammern und kippte den ganzen Inhalt einfach auf den Tisch. Er mußte das Material ja einigermaßen geordnet übergeben. Das würde nicht allzuviel Zeit in Anspruch nehmen, und er hatte im Moment gar nichts gegen diese primitive Büroarbeit einzuwenden. Systematisch und akkurat begann er, einzelne Zettel, Blätter, Briefe auf die jeweiligen Dokumente zu häufen, zu denen sie gehörten, und brachte die Dokumente dann ihrerseits in eine chronologische Reihenfolge. Er mußte daran denken, wie er die ganzen Papiere das vorige Mal hier ausgebreitet hatte, es waren längst nicht so viele gewesen; Lewis hatte ihn damals auf die Sache mit dem Verkehrslotsen aufmerksam gemacht. Zwar eine falsche Spur, wie sich später herausstellte, aber sie hätte ja auch von entscheidender Bedeutung gewesen sein können – und er hatte sie glatt übersehen. Hatte er vielleicht noch mehr in diesem Wust von Papier übersehen? Aber was grübelte er noch darüber nach? Es war jetzt zu spät. Er fuhr fort in seiner Arbeit. Valeries Zeugnisse. Die brachte er auch besser in die richtige Reihenfolge. Drei pro Jahr: Herbst –, Frühjahrs –, Sommerzeugnis. Aus ihrem ersten Jahr an der Gesamtschule lagen keine vor, aber sonst alle, bis auf eins – das Sommerzeugnis aus dem vierten Jahr. Warum? Das hatte er vorher nie bemerkt … Die Denkmaschine sprang wieder an. – Nein! Er drehte ihr den Strom ab. Das mußte überhaupt nichts bedeuten; das Zeugnis war eben nicht da. Es ging viel verloren
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