. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
in der Welt. Was sollte ihn denn daran mißtrauisch machen? Fast gegen seinen Willen ließ er die Stapel liegen, setzte sich in seinen Sessel und legte die Fingerspitzen an die Unterlippe. Vor ihm auf dem Tisch lagen die Zeugnisse. Er hatte sie natürlich alle längst gelesen und wußte auch genau, was drinstand. Valerie gehörte auch zu den vielen Könnte-mehr-leisten-wenn-sie-wollte-Schülern. Wie wir alle … Die Lehrer an der Roger-Bacon-Schule hätten sich diese Zeugnisse auch sparen können; es stand in allen dasselbe. Im letzten zum Beispiel, dem Frühjahrszeugnis aus dem Jahr, in dem sie verschwand. Immer dieselben Sprüche über Fortschritte oder daß diese auf sich warten ließen. Morse sah noch einmal mit einem halben Blick darauf. Acums Unterschrift stand da neben ihrer Beurteilung in Französisch: »Könnte wesentlich Besseres leisten, wenn sie nur wollte. Ihre Aussprache ist erstaunlich gut, aber Wortschatz- und Grammatikkenntnisse weisen noch große Lücken auf.« Wirklich immer dasselbe. Ein Fach gab es allerdings, das Valerie offenbar interessiert hatte und in dem sie Erfreuliches geleistet hatte; das war der Technisch-naturwissenschaftliche Unterricht. Morse konnte sich nur schwer vorstellen, daß Mädchen mit solchen Themen gut zurechtkamen. Aber die Lehrpläne hatten seit seinen Schülertagen seltsame Veränderungen erfahren. Er sah sich die früheren Zeugnisse durch. »Manuell sehr geschickt«, »Hat in diesem Trimester gute Leistungen erbracht«, »Verständnis für Mechanik«. Er erhob sich aus dem Sessel und ging ans Regal, wo er Valeries Hefte aufbewahrte. Hier war’s: Tec h nisch - naturwissen schaftlicher Unterricht. Morse überflog die Seiten. Ja, das sah gut aus – verblüffend gut … Moment mal! Er sah das Heft noch einmal durch, aber diesmal aufmerksamer. Die Lehrplanthemen lauteten: Kraft, Arbeit, Leistung, Beschle u nigung, Wirkungsgrad von Maschinen, einfache M a schinen, Hebel, Flaschenzug, einfache Kraftübertragungss y steme, Autom o toren, Kupplung …
Er ging zurück zum Schreibtisch, langsam wie ein Schlafwandler, und las noch einmal das Frühjahrszeugnis: Französisch und Technisch-naturwissenschaftlicher Unterricht …
Plötzlich standen ihm buchstäblich die Haare zu Berge. Er fühlte eine Enge im Hals, und ein Schauer lief ihm kalt das Rückgrat hinab. Seine Hand zitterte, als er sie nach dem Telefon ausstreckte.
Kapitel Zweiundvierzig
Ich kam offen, um ihn ehrlich zu erdolchen
Beaumont und Fletcher, Der kleine französische Advokat
Valerie Taylor schraubte die letzte Tube ihrer Hautsalbe auf – das war jetzt schon ihre sechste Verschreibung. Beim letztenmal hatte der Arzt sie ganz direkt gefragt, ob sie sich über etwas Sorgen mache. Ein wenig beunruhigt war sie schon, aber so, daß es gleich nach außen schlug, nun auch wieder nicht. Sie gehörte nicht zu denen, die sich allzu viele Gedanken um die Dinge machten. Das einzige, was sie wollte, war zu leben, jetzt und hier, und möglichst jeden Tag zu genießen. Sorgfältig verteilte sie die weiße Creme auf den unreinen Stellen. Wenn die Pickel doch bloß endlich verschwinden würden … Sie hatte sie jetzt schon seit über einem Monat, und sie schienen trotz aller Behandlung und Pflege überhaupt nicht besser zu werden. Sie hatte alles mögliche versucht, sie loszuwerden, einschließlich dieser komischen Schönheitsmaske. Das war an dem Tag gewesen, als der Inspector zum erstenmal vorbeigekommen war. Hm. Vielleicht war er schon ein kleines bißchen zu alt für sie – obwohl, sie hatte ältere Männer immer anziehend gefunden. David war ihr fast ein wenig zu jung. Aber er war immer unheimlich nett zu ihr gewesen. Trotzdem … das Gesicht von diesem Morse, als sie ihm in fließendem Französisch geantwortet hatte! Sie mußte in der Erinnerung daran lächeln. Puh! Wie gut, daß sie David auf die beiden Klassenfahrten nach Frankreich begleitet hatte. Allerdings wäre sie wahrscheinlich auch so durchgekommen. Der Inspector sprach ja selber nicht besonders gut. Der Abendkurs Fra n zösische Konvers a tion , den sie in den vergangenen zwei Jahren regelmäßig besucht hatte, war eben doch nicht ohne Erfolg geblieben. Zuerst hatte David sie ja ziemlich triezen müssen, damit sie hinging, aber später hatte es ihr dann sogar Spaß gemacht. Außerdem war es eine Möglichkeit gewesen, wenigstens einmal in der Woche rauszukommen. Den ganzen Tag über allein in diesem Haus – da hatte sie manchmal das
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