. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
unwiderstehlich aus. Ihr langer schwarzer Rock war seitlich hoch geschlitzt und ließ einen im Zweifel, was sie wohl darunter trug. Ihr Mund glänzte verführerisch wie beim letztenmal … die feuchten, halb geöffneten Lippen und die schimmernd weißen Zähne. O Gott, sei meiner armen Seele gnädig!
»Was möchten Sie trinken, Inspector? Whisky? Gin?«
»Einen Whisky, bitte.«
Sie verschwand in der Küche, und Morse stand mit wenigen schnellen Schritten vor einem schmalen Bücherregal, das sich neben einem Lederdiwan befand. Mit raschem Griff nahm er die Bücher eins nach dem anderen heraus, schlug das Titelblatt auf und stellte sie wieder zurück. Nur einen grünen Band hielt er einen Augenblick lang in der Hand, auf seinem Gesicht einen Ausdruck von Befriedigung, wenn nicht Überraschung, legte dann aber auch ihn beiseite.
Als sie aus der Küche zurückkam, in der Hand ein großes Glas Whisky, hatte er sich bereits auf den Diwan gesetzt. Sie setzte sich zu ihm.
»Wollen Sie gar nichts trinken?« Sie sah ihn an und flüsterte, ohne den Blick von seinem Gesicht zu nehmen. »Gleich«, steckte ihren Arm durch seinen und streichelte mit den Fingerspitzen sanft sein Handgelenk.
Er nahm ihre Hand, und einen süßen Moment lang war es ihm, als stünde er unter Strom, als ob seine Schläfen von der inneren Erregung vibrieren müßten. Er blickte auf die langen, schlanken Finger ihrer linken Hand und sah, daß sie an der Wurzel des Zeigefingers eine kleine Narbe hatte – in dem Bericht des Hausarztes über Valerie hatte gestanden, daß sie sich, als sie vierzehn war, eine tiefe Schnittwunde am Zeigefinger ihrer linken Hand zugezogen hatte.
»Ich würde dich gerne mit deinem Vornamen anreden«, bemerkte sie. »Ich kann doch nicht den ganzen Abend I n spector zu dir sagen.«
»Ach«, sagte Morse, »das ist komisch, aber es gibt eigentlich niemanden, der mich bei meinem Vornamen nennt.«
Sie küßte ihn leicht auf die Wange, und ihre Hand fuhr über seinen Oberschenkel. »Ist ja nicht so wichtig«, sagte sie. »Aber falls es daran liegt, daß er dir nicht gefällt, dann tausche ihn doch einfach aus, das ist ja nicht verboten.«
»Ja, das stimmt. Wenn ich wollte, könnte ich meinen Namen ändern. Du hast das ja schließlich auch getan.«
Sie setzte sich aufrecht hin und zog ihre Hand weg. »Was soll das heißen?«
»Letztes Mal, als ich hier war, hast du mir erzählt, dein Vorname sei Yvonne. Aber so heißt du nicht wirklich. Oder willst du das vielleicht abstreiten – Valerie?«
» Valerie? Hältst du mich etwa …« Es gelang ihr nicht, den Satz zu Ende zu bringen. Sie war völlig perplex. Sie stand auf.
»Jetzt hören Sie mir mal zu, Mr. Morse, oder wie immer Sie sonst heißen mögen, mein Name ist Yvonne Baker, und wenn das heute abend mit uns noch etwas werden soll, dann ist es besser, daß Sie sich das jetzt gleich merken. Ein für allemal. Falls Sie mir nicht glauben, können Sie ja bei meiner Freundin ein Stockwerk tiefer anrufen. Joyce kennt mich schon, seit wir zusammen zur Schule gegangen sind …«
»Ich muß niemanden anrufen«, sagte Morse. »Aber vielleicht solltest du deine Freundin anrufen, vielleicht kannst du Unterstützung gebrauchen.«
Sie kniff wütend die Augen zusammen, und die Schönheit ihres Gesichts war auf einmal wie weggewischt. Abrupt drehte sie sich um und ging zum Telefon, wählte eine Nummer.
Morse lehnte sich zurück und nahm zufrieden einen Schluck von seinem Whisky. Ihre Freundin schien nicht da zu sein, sie ließ das Telefon klingeln, doch es hob keiner ab. Schließlich gab sie auf und kam zu ihm zurück. Er beugte sich zur Seite, griff in das Bücherregal und zog eine gebundene Ausgabe von Jane Eyre hervor und schlug sie auf. Auf der Rückseite des Deckels klebte ein kleines Schildchen mit der Aufschrift: Roger-Bacon-Gesamtschule. Ein Ausleihzettel. Ganz unten stand der Name Valerie Taylor, darunter die Namen der beiden Mädchen, die das Buch vor ihr benutzt hatten.
Angela Löwe 5C
Mary Ann Baldwin 5B
Valerie Taylor 5C
Er reichte ihr das Buch hinüber. »Nun?«
Sie sah ihn genervt an. »Nun was?«
»Gehört das Ihnen?«
»Nein, das tut es nicht. Sie sehen doch, daß der Name von Valerie drinsteht. Sie hat es mir geliehen, als wir zusammen in der Klinik waren. Es war eines der Bücher, das sie für ihre Englischprüfung kennen mußte, und sie dachte, es würde mir vielleicht Spaß machen, es zu lesen. Aber irgendwie bin ich nie dazu gekommen, und ich habe einfach
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