. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
heute habe ich selbst. Ich brauche die Nummer vom 24. August.«
»Ach so.«
»Ich muß mich über Sie wundern, Lewis, ein so intelligenter Mann wie Sie, und liest nicht mal eine anständige Sonntagszeitung.«
»Der Sportteil im Mirror ist ziemlich gut, Sir.«
»Ah ja? Dann bringen Sie ihn doch morgen mal mit.«
»Aber gern, Sir. Ich werde dran denken.«
Morse bedankte sich und legte auf. Fast hätte er dem Sergeant angeboten, ihm im Austausch für den Mirror seine News of the World zu überlassen, gab diese Idee aber auf, weil er davor zurückscheute, dem Sergeant einen so tiefen Einblick in die Abgründe seiner Seele zu geben.
Was die Sunday Times anging, so mußte er seine Ungeduld bis Montag zügeln, dann würde er sich die Nummer in der Bibliothek ausleihen. Er sagte sich, daß es auf den einen Tag nicht ankomme, doch es blieb eine nagende Unruhe. Zum drittenmal las er den Brief der dankbaren Eltern aus Kidderminster. Bestimmt hatte es ihnen gutgetan, auf diese Weise die Rückkehr der verlorenen Tochter öffentlich kundzutun. Der Vater trug die Zuschrift vermutlich ausgeschnitten in der Brieftasche mit sich herum. Die Zeit der Sorgen und peinlichen Fragen war vorbei – man war wieder eine ganz normale Familie.
Plötzlich kam es über ihn wie eine Erleuchtung. Natürlich! Jetzt wußte er endlich, was Ainley bewogen hatte, den Fall Taylor wieder auszugraben. Irgendein Journalist mußte im Präsidium aufgetaucht sein und ihn über Valerie Taylors Verschwinden ausgefragt haben. Wie er Ainley kannte, hatte der, bevor er sich geäußert hatte, bestimmt noch einmal die Akte studiert, um sicherzugehen, daß er sich mit dem, was er sagte, auf dem Boden der Tatsachen bewegte. Ainley hatte immer eine tiefe Abneigung gegen alles gehabt, was unklar, zweideutig und nicht bewiesen war. Und bei der erneuten Beschäftigung mit den Fakten hatte er plötzlich etwas entdeckt, das ihm vorher entgangen war. So wie es einem manchmal beim Lösen von Kreuzworträtseln ging, dachte Morse. Man blieb an irgendeinem Punkt stecken, machte an einer anderen Stelle weiter, und wenn man nach zehn Minuten wieder einen Blick auf die Sache warf, dann – Heureka! – hatte man plötzlich eine Idee. So funktionierte eben das menschliche Denken. Genau das mußte Ainley passiert sein: er hatte plötzlich eine Idee gehabt.
Wenn nun aber Ainley zu dem Artikel beigetragen hatte, so lag die Schlußfolgerung nahe, daß zum einen der Bericht auch auf das Verschwinden von Valerie Taylor eingegangen war und zum andern, daß Ainley ihn aufbewahrt hatte. Er würde Mrs. Ainley anrufen.
»Eileen?« Diesmal hatte er den richtigen Vornamen erwischt. »Morse. Ich habe eine Frage. Haben Sie zufällig noch die Farbbeilage der Sunday Times vom 24. August?«
»Ist das die mit dem Artikel, zu dem sie bei Richard recherchiert haben?«
Er hatte also wirklich recht gehabt. »Ganz genau.«
»Ja, die habe ich noch.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich … äh … bei Ihnen vorbeikäme, um ihn mir mal durchzulesen? Ich meine, äh … jetzt gleich?«
»Nein, kommen Sie nur. Sie können, wenn Sie wollen, das Heft auch mitnehmen. Ich brauche es nicht mehr.«
Eine halbe Stunde später saß Morse in einem Pub. Seinem Vorsatz, einen Tag lang abstinent zu sein, untreu, hatte er sich ein Bier bestellt, dazu eine Pastete mit einer Füllung aus Rinderragout und Champignons, die reichlich klitschig geraten war. Ohne große Eile blätterte er in der Farbbeilage. Jetzt, da er den Bericht in Händen hielt, war seine Neugier merkwürdigerweise fast verflogen.
Der Autor entwarf zunächst in knappem Soziologenjargon ein Bild von den Schwierigkeiten, denen sich Jugendliche in der Pubertät gegenübersahen, um dann über jeweils mehrere Spalten die Fälle von sechs jungen Mädchen vorzustellen, die ihrem Zuhause irgendwann den Rücken gekehrt und seitdem nichts mehr von sich hatten hören lassen. Das Interesse des Verfassers schien jedoch vor allem den Eltern zu gelten, die in aller Ausführlichkeit zu Worte kamen. In Sätzen wie »Wir lassen, seit sie weg ist, jede Nacht im Flur das Licht für sie brennen« enthüllte sich der Kummer und die Sorge von Müttern und Vätern, die sich unaufhörlich fragten, wie es ihrer Tochter gehen mochte, ohne je eine Antwort zu bekommen. Der Artikel enthielt auch Fotos sowohl der Mädchen als auch ihrer Eltern. Die Aufnahmen von den Mädchen waren, wie nicht anders zu erwarten, alle älteren Datums, und da es sich um zufällige
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