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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

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Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Schnappschüsse handelte, zum Teil von nicht besonders guter Qualität. Auch die Aufnahme von Valerie Taylor verriet die Hand des Amateurs. Und so erhielt Morse, als er nun zum erstenmal ein Bild von Valerie Taylor sah, nur einen undeutlichen Eindruck. Immerhin war das Foto scharf genug, um erkennen zu lassen, daß Valerie von den sechs die Hübscheste war. Allerdings dicht gefolgt von einer süßen Unschuld aus Brighton. Das Foto zeigte nur Valeries Gesicht, umrahmt von langen dunklen Haaren – ein voller, etwas spöttischer Mund, Augen, in denen ein unbestimmtes Versprechen zu liegen schien, schön geschwungene Augenbrauen (vermutlich gezupft, dachte Morse, befriedigt über seine Objektivität). Eine Seite weiter waren ihre Eltern abgebildet. Ein unauffälliges Ehepaar, das in unnatürlich gerader Haltung auf der Kante des schäbigen Sofas saß. Er mit einer knalligen Krawatte von Woolworth, die Hemdsärmel aufgerollt, so daß eine große dunkelrote Tätowierung auf seinem rechten Unterarm sichtbar war. Sie in einem billigen Baumwollkleid, auf dessen Kragen eine viel zu elegante Kameebrosche schimmerte, die zumindest einen Anspruch demonstrierte. Auf einem niedrigen Beistelltischchen, das wohl extra für die Aufnahme dorthin gerückt worden war, lehnte gegen unsichtbare Stützen eine Unmenge von Gratulationskarten mit den besten Wünschen zum achtzehnten Hochzeitstag. Es war alles schrecklich künstlich und um so leichter zu durchschauen. Sie waren ganz offensichtlich bemüht, den Anschein einer heilen Welt aufrechtzuerhalten. Vielleicht war Trauer ein Gefühl, dessen sie sich schämten. Morse bestellte noch ein Bier und begann nachzulesen, wie Valerie Taylors Verschwinden sich in einem Zeitungsartikel darstellte.
     
    Der Juni vor zwei Jahren zeichnete sich aus durch eine ungewöhnlich lange Schönwetterperiode. Am Dienstag, dem 10. Juni, einem besonders heißen Tag, verließ Valerie Taylor gegen halb eins ihre Schule, die Roger-Bacon-Gesamtschule in Kidlington, Oxfordshire, um zum Mittagessen nach Hause zu gehen. Sie hatte nicht weit zu laufen. Hatfield Way, wo die Familie ein von der Gemeinde gemietetes Reihenhaus bewohnt, lag nur einen guten halben Kilometer entfernt. Wie viele ihrer Mitschüler konnte Valerie den Mahlzeiten in der Schulkantine nicht viel abgewinnen und zog es vor, mittags nach Hause zu gehen. Valeries Mutter, Mrs. Grace Taylor, hatte wie immer mit dem Essen auf ihre Tochter gewartet. Sie aßen beide zusammen in der Küche. Es gab einen Schinkensalat und zum Nachtisch Johannisbeerkuchen mit Vanillesauce. Der Nachmittagsunterricht beginnt um Viertel vor zwei, und Valerie brach gewöhnlich ungefähr zwanzig Minuten vorher auf. So auch am 10. Juni. Nichts deutete daraufhin, daß dieser strahlend blaue Sommertag zu einem Wendepunkt im Leben der Familie Taylor werden sollte. Valerie durchquerte den schmalen Vorgarten und winkte ihrer Mutter, bevor sie auf die Straße trat und den Weg in Richtung Schule einschlug, zum Abschied noch einmal zu. Das war das letzte Mal, daß sie gesehen wurde.
    Mr. George Taylor ist städtischer Bediensteter. Als er abends gegen zehn nach sechs von der Arbeit heimkehrte, kam ihm seine Frau schon an der Tür entgegen. Sie war beunruhigt. Valerie hätte längst vom Nachmittagsunterricht zurück sein müssen. Es war nicht ihre Art, ihre Mutter unnötig warten zu lassen; in der Regel sagte sie vorher Bescheid, wenn es aus irgendeinem Grund später wurde. Zu diesem Zeitpunkt machten sich Valeries Eltern jedoch noch keine ernsthaften Sorgen. Sie nahmen immer noch an, daß Valerie jeden Augenblick hereinkommen würde. Doch die Minuten verrannen, wurden zu Stunden. Um acht hielt Mr. Taylor das tatenlose Herumsitzen nicht mehr aus, stieg in seinen Wagen und machte sich auf den Weg zu Valeries Schule. Dort traf er nur den Hausmeister, der ihm aber nichts sagen konnte. Daraufhin fuhr Mr. Taylor bei einigen von Valeries Schulfreundinnen vorbei. Sie konnten ihm jedoch auch nicht weiterhelfen. Keine erinnerte sich, Valerie am Nachmittag gesehen zu haben. Sie hatten jedoch nicht weiter darüber nachgedacht, da Dienstag nachmittags Sportunterricht war und es häufiger vorkam, daß sich einzelne Schüler unauffällig aus dem Staub machten. Als Mr. Taylor wieder zu Hause eintraf, war es bereits neun. Er versuchte seine Frau und wohl auch sich selbst zu beruhigen, indem er unaufhörlich wiederholte, es gebe bestimmt eine ganz einfache Erklärung. Es wurde zehn, schließlich elf. Sie waren

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