. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
längst in Panik. George Taylor war dafür, die Polizei zu verständigen, aber seine Frau wollte davon nichts hören.
Als ich mich letzte Woche mit dem Ehepaar Taylor unterhielt, mochten sie sich verständlicherweise nicht näher darüber äußern, was sie in diesen langen Nachtstunden gefühlt und gedacht hatten, aber dem wenigen, was sie sagten, war zu entnehmen, daß Grace Taylor, die Mutter, wohl die größeren Ängste durchlitt, während ihr Mann sich an die Hoffnung klammerte, Valerie verbringe die Nacht bei einer Freundin und werde am nächsten Morgen wieder auftauchen. Gegen vier Uhr gelang es ihm, seine Frau zu überreden, zwei Schlaftabletten zu nehmen, und er brachte sie nach oben ins Bett.
Als er am anderen Morgen um halb acht das Haus verließ, um zur Arbeit zu gehen, schlief sie noch. Er ließ ihr einen Zettel da, daß er in seiner Mittagspause heimkommen werde und daß sie, falls Valerie bis dahin noch nicht wieder da sei, die Polizei benachrichtigen müßten. Dies geschah dann aber tatsächlich schon kurz nach neun. Mrs. Taylor war gegen neun Uhr aufgewacht und hatte, als sie merkte, daß ihre Tochter immer noch nicht zurückgekehrt war, völlig aufgelöst bei einer Nachbarin geklingelt und von dort aus die Polizei angerufen.
Detective Chief Inspector Ainley von der Thames Valley Police , der mit den Ermittlungen betraut wurde, leitete sofort umfangreiche Suchmaßnahmen ein. Die Umgebung von Valeries Elternhaus wurde gründlich durchkämmt, der Fluß und das nahegelegene Wasserreservoir mit Schleppnetzen abgesucht, ohne daß man eine Spur von ihr gefunden hätte.
Inspector Ainley äußerte sich zwei Jahre nach diesen Ereignissen noch immer äußerst kritisch darüber, daß die Polizei erst am Morgen nach dem Verschwinden informiert wurde. Man hätte zwölf, im günstigsten Fall bis zu fünfzehn Stunden eher mit der Suche beginnen können, wenn sich die Eltern, als die anfängliche leichte Beunruhigung in Besorgnis umschlug, sofort mit der Polizei in Verbindung gesetzt hätten. Eine solche Verzögerung ist allerdings – wie auch die anderen Fälle zeigen – nicht ungewöhnlich. Auch die Eltern der anderen Mädchen haben erst einmal abgewartet, bevor sie sich an die Polizei wandten. Kostbare Zeit verstreicht ungenutzt, und wichtige Spuren können verlorengehen. Aber viele Eltern schrecken davor zurück, die Polizei unnötig zu behelligen, furchten wohl auch die Blamage, wenn sich die verschwundene Tochter unversehrt und höchstens etwas kleinlaut wieder zu Hause einfindet und sich so im nachhinein erweist, daß der Polizeiapparat völlig überflüssigerweise in Bewegung gesetzt worden ist. Die Furcht, sich lächerlich zu machen, ist jedoch nicht der einzige Grund. Bei meinen Gesprächen mit den Eltern konnte ich feststellen, daß ihre Haltung gegenüber der Polizei auch durch ein Moment von – man könnte sagen – Irrationalität bestimmt ist, das seinen Ausdruck findet in einem Satz wie dem von Mrs. Taylor: »Die Polizei zu rufen bedeutete für mich, daß etwas Schreckliches passiert sein mußte.« Sicher irrational, aber ich muß gestehen, daß ich ihr Gefühl nur allzugut nachempfinden konnte.
Die Taylors leben noch immer am Hatfield Way. Sie warten nun schon seit mehr als zwei Jahren, und bis heute ist kein Tag vergangen, an dem sie nicht um die Rückkehr ihrer Tochter gebetet hätten. Auch die Polizei ist nach wie vor daran interessiert, Valerie Taylors Verschwinden aufzuklären. Dazu sagte mir Inspector Ainley: »Für uns ist der Fall erst abgeschlossen, wenn wir sie gefunden haben.«
Der Bericht war recht ordentlich, dachte Morse. Einige der dort erwähnten Details hatten ihn überrascht und wären normalerweise Anlaß zu mehr oder weniger verwegenen Überlegungen gewesen, aber er hatte sich vorgenommen, diesen Fall nüchtern anzugehen und sich strikt an die Tatsachen zu halten. Befriedigt konstatierte er, daß er jedenfalls in bezug auf Ainley recht gehabt hatte: der hatte noch einmal die Akte studiert, und dabei war ihm plötzlich etwas aufgefallen – vielleicht ein bislang verborgen gebliebener Zusammenhang, ein Widerspruch, der ihm damals entgangen war. Was es auch gewesen sein mochte, es hatte ihn offenbar nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Selbst noch in seiner freien Zeit hatte er sich ja mit Nachforschungen beschäftigt. Und am Ende hatten sie ihn – wenn auch nur indirekt – sogar das Leben gekostet.
Morgen würde er sich mit Lewis zusammen die Akte Taylor vornehmen.
Weitere Kostenlose Bücher