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Aktenmaterial durch. Dann und wann sah einer der beiden von seiner Lektüre auf, um den anderen auf einen besonders interessanten Punkt hinzuweisen oder eine Frage zu stellen. Die meiste Zeit lasen sie jedoch schweigend. Jedem, der die beiden da so hätte sitzen sehen, wäre wohl nach wenigen Minuten aufgefallen, daß Morse mindestens fünfmal so schnell vorankam wie sein bedächtiger Sergeant; ob er sich auch an fünfmal soviel erinnerte, war jedoch die Frage. Denn Morse stellte sehr bald fest, daß die vor ihm liegenden Aussagen und Berichte inhaltlich kaum mehr boten als der Artikel in der Sunday Times , und las deshalb nur aus Pflichtgefühl und ohne großes Interesse. Die einzige Erkenntnis, die sich aus dem Wust der von Ainley mit Sorgfalt und Fleiß zusammengetragenen Unterlagen ergab, war, daß Valerie Taylor sich von zu Hause auf den Weg gemacht hatte, um zur Schule zurückzukehren, dort aber nie ankam und seitdem nicht mehr gesehen worden war. Selbst für Morse, der in letzter Zeit dazu übergegangen war, bei jeder Gelegenheit ein Loblied auf die Fakten zu singen, war das eine zu magere Tatsache, als daß er darüber Freudensprünge hätte vollführen mögen. Ainley hatte alle Personen in Valeries Umkreis, von denen auch nur im entferntesten angenommen werden konnte, daß sie zur Lösung etwas beizutragen hätten, befragen lassen. Mit einigen, so mit Valeries Eltern, dem Direktor ihrer Schule, der Klassenlehrerin und der Sportlehrerin hatte er selbst gesprochen. Auch zwei ihrer Freunde hatte er sich persönlich vorgenommen. Seinem Bericht war deutlich sowohl Wertschätzung als auch Ablehnung zu entnehmen. Der Direktor hatte ihm offenbar imponiert, während vor allem der eine von Valeries Freunden starke Ressentiments in ihm geweckt haben mußte. Ainley wie auch die anderen in die Ermittlungen eingeschalteten Beamten hatten alle nur denkbaren Fragen gestellt, und die Gesprächspartner schienen ihre Auskünfte mit größter Bereitwilligkeit gegeben zu haben. Nur, was von den Gesprächen unter dem Strich als Information übrigblieb, war nicht der Rede wert. Die landesweit veröffentlichte Suchanzeige hatte ebenfalls nichts erbracht. Zwar waren in den verschiedensten Polizeidienststellen Meldungen eingegangen, denen zufolge irgendwelche Leute Valerie mit Sicherheit erkannt haben wollten, und zwar gleichzeitig in Birmingham, Clacton, London, Reading, Southend sowie – Morse hatte nur den Kopf geschüttelt – einem abgelegenen Dorf in Morayshire. Aber die umgehend eingeleiteten Nachforschungen hatten nie etwas ergeben. Dann Valeries Schülerbogen. Dem Geburtsdatum nach war Valerie siebzehn Jahre und etwas über fünf Monate alt gewesen, als sie verschwand. Für die wissenschaftlichen Fächer war sie wohl wenig begabt; vielleicht war sie aber auch nur desinteressiert gewesen. Verschiedene Lehrer hatten geklagt, daß sie ihre Fähigkeiten nicht voll nutze. In ihrem vorletzten Schuljahr hatte sie den Hauptschulabschluß gemacht – mit mäßigem Erfolg. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war sie damit beschäftigt gewesen, sich in den Fächern Englisch, Französisch sowie Technisch-naturwissenschaftlicher Unterricht auf die Mittlere Reife vorzubereiten. Trotz ihrer schwachen Noten hatten die meisten Lehrer sie wegen ihrer offenen, freundlichen Art geschätzt. Auch bei ihren Mitschülern, Mädchen wie Jungen, war sie beliebt gewesen. Der gründliche Ainley hatte nicht versäumt, auch den Hausarzt um einen Bericht zu bitten. Valerie hatte nur wenig unter Krankheiten gelitten. Als Kind hatte sie die Masern gehabt, als Vierzehnjährige war sie einmal wegen einer tiefen Schnittwunde am Zeigefinger ihrer linken Hand bei ihm zur Behandlung gewesen.
Ainleys besondere Aufmerksamkeit hatte der Frage gegolten, ob es zwischen Valerie und ihren Eltern Spannungen gegeben hatte, die für Valerie Anlaß gewesen sein konnten, von zu Hause wegzulaufen. Dafür ergaben sich jedoch trotz aller Nachfragen keinerlei Hinweise. Valeries Klassenlehrerin, die – wie sie betonte – sich stets auch als eine Art Seelsorgerin ihrer Schüler verstanden hatte, die Eltern selbst, Nachbarn sowie Schulfreunde und -freundinnen hatten übereinstimmend ausgesagt, die häuslichen Konflikte seien nicht über ein normales Maß hinausgegangen. Natürlich hatte es manchmal Krach gegeben. Ein- oder zweimal war Valerie aus der Disco zu spät nach Hause gekommen, und Mrs. Taylor verstand in dem Punkt keinen Spaß. Ainleys abschließendes Urteil war gewesen,
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