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sagten die meisten –, aber alles in allem ließ es sich mit ihm auskommen. Sie hatten schon einmal zusammengearbeitet, und er hatte die Zeit damals in recht guter Erinnerung. Ab und zu war der Inspector auch völlig normal und benahm sich genau wie andere Leute. Das Problem mit ihm war, daß er sich nie mit einfachen Lösungen zufriedengab, und Lewis hatte genügend Erfahrung als Kriminalbeamter, um zu wissen, daß die meisten Straftaten ihren Ursprung in ganz einfachen – billigen und schäbigen – Motiven hatten und die wenigsten Verbrecher intelligent genug waren, um derartig raffiniert und fintenreich zu planen, wie Morse ihnen gewöhnlich unterstellte. Wenn Morse einen Fall bearbeitete, wurde dieser immer komplizierter, und die simpelsten Tatsachen veranlaßten ihn zu endlosen abenteuerlichen Gedankenspielen. Aber dem Chef schien es bei aller Klugheit unmöglich zu sein, eins und eins zusammenzuzählen und als Ergebnis zwei zu erhalten. Die Briefe, die Valerie geschickt hatte, waren da ein Beispiel. Peters hatte doch gesagt, daß der erste fast sicher von ihr selbst geschrieben worden war. Warum ging er dann bei den Ermittlungen nicht von dieser Tatsache aus? Aber nein, Morse konnte nicht anders als ihn für eine Fälschung halten. Und zwar einzig aus dem Grund, weil sich das besser mit irgendeinem seiner phantastischen Hirngespinste vertrug. Und dann der zweite Brief. Über den hatte Morse sich noch kaum geäußert; vielleicht waren ja Peters’ Erläuterungen doch nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Aber selbst wenn er es hinnehmen mußte, daß Valerie Taylor die Briefe geschrieben hatte, würde er sich niemals mit einer so einfachen Tatsache abfinden wie der, daß ein Mädchen die Nase schlicht voll hatte von den Eltern und der Schule. Das wäre ihm alles viel zu leicht, keine Herausforderung mehr an seinen hochgezüchteten Verstand.
Lewis begann zu wünschen, er könnte ein paar Tage auf eigene Faust in London ermitteln. Er würde schon etwas finden. Ainley hatte ja wohl auch etwas gefunden – Morse behauptete das jedenfalls. Aber das war vielleicht auch wieder nur so eine von seinen Mutmaßungen. Beweise gab es dafür nicht. Eigentlich war es doch viel wahrscheinlicher, daß Ainleys Suche ergebnislos geblieben war. Das müßte wirklich schon ein Riesenzufall gewesen sein, wenn er ausgerechnet an dem Tag umkam, an dem er auf eine entscheidende Spur gestoßen sein sollte – nachdem er zwei Jahre lang vergeblich gesucht hatte! Aber wenn Morse erst mal in Fahrt war, gab es für ihn so etwas wie wahrscheinlich und unwahrscheinlich nicht mehr.
Er ging in die Kantine, um eine Tasse Tee zu trinken, und setzte sich zu Constable Dickson an den Tisch.
»Na, den Mord schon gelöst, Sarge?«
»Welchen Mord?«
Dickson grinste. »Du willst mir doch nicht weismachen, daß sie Morse mit einer Vermißtensache beauftragt hätten. Das glaubst du doch selber nicht. Komm schon, verrat mal, was habt ihr rausgekriegt?«
»Da gibt es nichts zu verraten«, sagte Lewis.
»Nun zier dich nicht so. Ich habe damals selbst mit dem Fall zu tun gehabt. War bei der Suche dabei. Wir haben die ganze Nachbarschaft umgekrempelt. Selbst das Reservoir haben wir uns vorgenommen.«
»Ich weiß. Aber ihre Leiche habt ihr nicht gefunden. Und ohne Leiche kein Mord – das solltest du inzwischen eigentlich kapiert haben, Dickson, mein Junge.«
»Ainley war auch der Meinung, daß sie ermordet worden ist, oder etwa nicht?«
»Na ja, man darf das als Möglichkeit natürlich nie ganz außer acht lassen. Aber überleg doch mal selbst …« Er beugte sich über den Tisch und sah den Constable eindringlich an. »Du bringst jemanden um. So weit, so gut. Jetzt stehst du da mit ’ner Leiche, und was nun? Mach mal ’nen Vorschlag.«
»Ach, da gibt’s doch tausend Möglichkeiten.«
»Ich höre.«
»Da ist erst mal das Reservoir.«
»Das scheidet aus. Du hast doch gerade selbst erzählt, daß ihr das abgesucht habt. Ohne Erfolg.«
Dickson machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die Aktion war doch ein Witz. Kannste vergessen. So ein Riesending. Da hätte man schon unverschämtes Schwein haben müssen, um sie zu finden.«
»Fällt dir sonst noch was ein?«
»Aber klar. Der Heizkessel in der Schule, wo sie war. Wenn jemand sie da reingesteckt hat, dann ist nicht viel von ihr übriggeblieben.«
»Der Heizungskeller ist immer abgeschlossen.«
»Daß ich nicht lache … Sollte immer abgeschlossen sein, meinst du wohl. Und ob nun
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