. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen
mache er sich überhaupt nicht klar, vor was für schier unüberwindliche Probleme das denjenigen stelle, der den Stundenplan zu machen habe, nämlich ihn! Baines tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust.
Morse ließ ihn reden und horchte auf Zwischentöne. Ob der stellvertretende Direktor es seinem Chef Phillipson wohl persönlich verübelt hatte, daß dieser ihm vorgezogen worden war? Und wenn ja, war dann dies Gefühl noch virulent? Wartete Baines die ganze Zeit nur auf eine Gelegenheit, um es dem Sieger von damals heimzuzahlen? Vielleicht sollte er die Sache direkt ansprechen. Baines’ Reaktion könnte aufschlußreich sein. Morse unterbrach den Redefluß seines Gegenübers. Er habe gehört, daß sich Baines ebenfalls um die Stelle des Direktors beworben habe … Baines nickte. Er habe damals Pech gehabt. Ein schiefes Lächeln. Übrigens nicht zum erstenmal. Seiner Meinung nach gebe es dafür keine plausible Erklärung. Er traue es sich durchaus zu, eine Schule zu leiten. Ja, dachte Morse. Das stimmte wohl. Egoistisch und auf seinen Vorteil bedacht – aber ohne Zweifel jemand, der sich durchzusetzen verstand und dem man, was administrative Dinge anging, Kompetenz nicht abstreiten konnte. Was ihn vor allem an dem Amt gereizt haben mußte, war sicher eine gewisse Macht, die sich damit verband. Aber nach den Fehlschlägen – was war aus den frustrierten Machtgelüsten geworden? Bezog er statt dessen eine gehässige Befriedigung daraus, die Schwächen anderer ausfindig zu machen und sich hämisch die Hände zu reiben, wenn ihnen etwas mißlang? Im Deutschen gab es ein Wort dafür: Schadenfreude. Falls Phillipson seinen Posten aus irgendeinem Grund aufgab, vielleicht aufgeben mußte, würde dann Baines sein Nachfolger werden? Vermutlich ja. Und Baines würde das wissen. Aber würde er so weit gehen, aktiv etwas zu unternehmen, um Phillipson zu Fall zu bringen? Er sah Baines prüfend an. Der erzählte gerade eine sehr amüsante Anekdote aus dem Schulleben, und Morse war geneigt anzunehmen, daß er ihn doch zu negativ gesehen habe. Baines wirkte jetzt und hier so gar nicht wie jemand, der insgeheim finstere Pläne schmiedete.
»Haben Sie Valerie mal unterrichtet?«
Baines lachte. »Sie war ein Jahr lang meine Schülerin. In der 5. Klasse. Aber unterrichtet ist zuviel gesagt, sie konnte ein Trapez nicht von einem Trampolin unterscheiden.«
Morse mußte ebenfalls lachen. Dann fragte er: »Mochten Sie sie?«
Baines Gesichtsausdruck wurde schlagartig neutral. »Es war nichts gegen sie zu sagen.« Eine merkwürdig nichtssagende Antwort, und Baines versuchte davon abzulenken, indem er weitere Beispiele für Valeries mangelnde schulische Fähigkeiten aus seiner Erinnerung hervorkramte und danach, als sich dazu beim besten Willen nichts mehr sagen ließ, übergangslos anfing zu erzählen, wie er einmal bei einer Geometriearbeit auf dreizehn verschiedene Schreibweisen für Hypotenuse gestoßen sei.
»Kennen Sie auch Mrs. Taylor?«
»Wie? Ja, doch.« Baines stand auf und nahm ihre beiden Biergläser. Es sei an der Zeit, für etwas Nachschub zu sorgen. Morse spürte, daß er nur den Fragen ausweichen wollte, und hatte nicht übel Lust, ihm zu widersprechen, ließ es dann aber. Schließlich hatte er noch ein ziemlich heikles Anliegen.
Morse fand in dieser Nacht nicht viel Schlaf. In ununterbrochener Folge stiegen zusammenhanglose Bilder in ihm auf und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Gequält wälzte er sich von einer Seite auf die andere. Um drei Uhr stand er auf und machte sich eine Tasse Tee. Zurück im Bett, das Licht war noch eingeschaltet, versuchte er, sich mit geschlossenen Augen auf einen imaginären Punkt vor seiner Nase zu konzentrieren. Das half. Das Bilderkarussell drehte sich langsamer, blieb schließlich stehen. Er schlief ein. Im Traum erschien ihm ein hinreißendes Mädchen, das, sich verführerisch in den Hüften wiegend, über ihn gebeugt stand und Knopf um Knopf ihrer tief ausgeschnittenen Bluse für ihn öffnete. Gerade wollte er die Hand ausstrecken, um den Reißverschluß an ihrem Rock herunterzuziehen, da hob sie die Hand ans Gesicht und streifte ihre Maske ab. Er blickte in das Gesicht von Valerie Taylor.
Kapitel Vierzehn
Denn ich bin ein Mensch, der Obrigkeit Untertan
Matth. 8; 9
Mit Morse zu arbeiten war gar nicht so schlecht. Manchmal war er zwar ein bißchen merkwürdig – das kam vielleicht daher, daß er allein lebte, hätte schon längst heiraten sollen, das
Weitere Kostenlose Bücher