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. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

. . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen

Titel: . . . Wurde Sie Zuletzt Gesehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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hatte das Gefühl, von einer Geisterhand berührt worden zu sein.
     

Kapitel Zweiundzwanzig
     
    Verstehen läßt sich das Leben nur im Rückblick,
    leben muß man es nach vorn
    Søren Kierkegaard
     
    Morse war morgens um halb acht in seinem Büro.
    Als kleiner Junge hatte er keine größere Wonne gekannt, als lange im Bett liegen zu können. Aber die Zeiten waren vorbei – das war ihm heute besonders schmerzhaft bewußt, denn der kurze, unruhige Schlaf der letzten Nacht hatte ihn nicht erfrischt. Müde und gereizt saß er am Schreibtisch und versuchte vergeblich, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Fahrt zum Dienst hatte ihm gutgetan, und ein kleiner Trost war es, die Times zu lesen. Die Führer der Supermächte hatten ein Treffen in Wladiwostok vereinbart; und die Wirtschaft setzte ihre Talfahrt fort, ein Desaster schien unvermeidlich. Aber Morse las nur die Schlagzeilen. Über die Lage der Nation und das Kommen und Gehen der Mächtigen war er immer schlechter informiert. Man konnte das Feigheit nennen, für ihn war es eine Art Selbstschutz. Über manche Dinge wollte er einfach nicht zu gut Bescheid wissen, das hielt er für sein gutes Recht, denn er nahm sich immer gleich alles so zu Herzen. Schon eine beiläufige Bemerkung, daß Nervenzusammenbrüche in unserer Gesellschaft keine Seltenheit seien, konnte ihn in die Angst versetzen, er werde schon morgen in der Psychiatrie landen. Neulich zum Beispiel hatte er allen Mut zusammengenommen und einen ausführlichen Artikel über die Ursachen des Infarkts gelesen. Prompt hatte er fast alle wichtigen Symptome an sich selbst beobachtet und sich in Panik hineingesteigert. Ärzte mußten eigentlich die Superhypochonder sein. Er wandte sich der letzten Seite der Times zu und nahm seinen Kuli heraus. Hoffentlich war das Kreuzworträtsel heute mal richtig gemein schwer! – Doch nein, nur neuneinhalb Minuten.
    Er nahm sich einen Zettelblock und fing an zu schreiben und schrieb noch, als eine Stunde später das Telefon klingelte. Es war Mrs. Lewis. Ihr Mann liege mit hohem Fieber im Bett, es sei wohl eine Grippe. Er habe unbedingt kommen wollen, aber sie habe ihn davon abgehalten und gegen seinen Protest den Arzt gerufen. Morse, ganz Mitgefühl, gab ihr völlig recht und legte ihr dringend ans Herz, ja auf den sturen alten Na-Sie-wissen-schon aufzupassen – der solle gefälligst auf sie hören. Er werde versuchen, etwas später mal vorbeizukommen.
    Morse lächelte resigniert, als er seine eilig geschriebenen Notizen durchsah. Es waren Anweisungen für Lewis. Und wie hätte der sich darüber gefreut. Alles Routineaufgaben. Phillipson: Kasse Playhouse nach Reihe und Platz fragen, Nachbarn rechts und links? Aufsuchen, nachfragen. Entsprechend war mit Acums Alibi und dem der Taylors zu verfahren. Lonsdale College, Ritz , Jericho Arms . Wieder nachfragen, systematisch sondieren und rekonstruieren. Ja, das hätte dem Sergeant Spaß gemacht! Und – wer weiß, vielleicht wäre dabei sogar etwas herausgekommen. Es wäre jedenfalls unverantwortlich, diese naheliegenden Untersuchungsmethoden außer acht zu lassen. Morse zerriß die Zettel und warf sie in den Papierkorb.
    Vielleicht sollte er seine Aufmerksamkeit auf das Messer richten. Ja genau – das Messer! Aber was zum Teufel sollte er mit dem Messer? Wenn Sherlock Holmes hier wäre, würde der sicherlich deduzieren, daß der Mörder fünf Fuß, sechs Inches groß sei, an einem Tennisarm leide und jeden zweiten Sonntag Roastbeef esse – und zwar zweifelsfrei. Aber er besaß keine derartigen Fähigkeiten. Morse ging zum Schrank und nahm das Messer heraus. Er schloß die Augen, versuchte, sich mit aller Kraft zu konzentrieren, öffnete sie wieder, fixierte das Messer mit äußerster Intensität und machte die Erfahrung, daß sein überwaches und völlig auf Empfang geschaltetes Gehirn – nichts wahrnahm. Es kam einfach nichts rüber. Er sah ein Messer, und das war’s. Irgendwo im Lande, wahrscheinlich hier in der näheren Umgebung, fehlte in einer Küchenschublade das große Fleischmesser. Aber diese Erkenntnis bewegte die Ermittlungen nicht einen Millimeter nach vorn, oder? Konnte man vielleicht feststellen, ob ein Messer von einem Links- oder Rechtshänder gewetzt worden war? Lohnte es sich, das herauszufinden? Die Sache wurde allmählich albern. Da wäre es schon interessanter zu erfahren, wie es dort hingekommen war. Morse packte das Messer wieder weg, setzte sich in seinen schwarzen Ledersessel und begann noch einmal

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