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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Hein
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immerhin ein Mann. Mich nahm man überhaupt nicht wahr. Ständig wurde ich angerempelt oder mir wurde auf die Füße getrampelt, ohne dass die Leute auch nur aufschauten. Ich war keine Person mehr, nur noch ein vegetarisches Straßenverkehrshindernis. Längst war ich zu schwach, um mich dagegen zu wehren oder nur etwas zu sagen.
    Ich schrieb Tom Tofu, ob das denn alles noch gesund sei, ob ich denn nicht doch ab und an mal ein kleines Stückchen Fleisch essen könne, um wenigstens die vollkommene Entkräftung zu verhindern. Ob wir Vegetarier uns damit nicht selbst schaden würden, weil wir ja durch unsere Geschlechtslosigkeit die Gabe des Vegetarismus nicht an die nächsten Generationen weitergeben könnten. Nein, schrieb Tofu umgehend zurück. Keinesfalls dürfe ich auch nur irgendein Stückchen Fleisch ansehen, sonst würde mir umgehend mein Vegetarismus aberkannt werden.

    Ich weinte damals gern, wenn ich einen Grund dafür hatte, dann fühlte ich mich gleich wohler. Gab es keinen Grund zum Weinen, machte mich das traurig, weil ich mich dann nicht wohler fühlen kann. Darum weinte ich, das hatte ich sozusagen gut im Griff.
    Einmal schreckte ich nachts um 2 Uhr auf meinem Sofa hoch. Ich musste dort am Abend zuvor eingeschlafen sein. Für einen kurzen Moment grausamer Klarsichtigkeit fühlte ich mich wie früher und wunderte mich, warum ich eine weit geschnittene Latzhose aus lila gefärbtem Leinenstoff, Ökolatschen und eine selbst gehäkelte Mütze trug. Früher war ich ein modebewusster, man könnte sagen: fescher Mann gewesen. Das graue Stück Mensch, das in selbst gefärbten Ökoklamotten auf dem Sofa eingeschlafen war, hatte damit gar nichts zu tun. Dann fiel mir wieder ein, dass ich Vegetarier geworden war und mein Aussehen egal. Ich fiel beruhigt wieder in den Schlaf zurück.
    Das muss in etwa die Zeit gewesen sein, als mir auffiel, dass meine Frau verschwunden war. Jedenfalls hatte ich sie wochenlang nicht mehr in der Wohnung gesehen und es gab unklare Erinnerungen daran, dass sie mich einige Male in sehr scharfem Tonfall angesprochen hatte.Sie haben natürlich recht, Herr Kommissar, man sollte meinen, dass die Trennung von der langjährigen Ehefrau mehr Erinnerungen hinterlässt, aber wie dem Verdurstenden die Tränen abhandenkommen, verliert der Vegetarier jegliches Gefühl für sein Gegenüber. Ich vernachlässigte andere so, wie ich mich selbst vernachlässigte. Letztes erkennbares Überbleibsel von Selbstfürsorge war meine Sorge um das Verschwinden meiner Libido. Früher war ich so stolz auf meine Manneskraft gewesen, das Gefühl, meinen Körper im Griff zu haben, verbunden mit Visionen von Sünde und Verbotenem. Doch Tom Tofu hatte völlig recht. Seit Beginn des Vegetarismus hatte ich keinerlei Lustgefühl mehr. Gingen schöne Frauen an mir vorüber, gab es früher doch die kurzen Fantasien von nackter Haut und körperlicher Begegnung. Seit meinem Verzicht gab es diese Fantasien nicht mehr, es gab überhaupt keine Fantasie mehr.
    Der Erotikshop, den ich aufsuchte, in der Hoffnung, meine Lust wiederzubeleben, lag im Souterrain eines Mietshauses. Nachdem ich den schweren Schritt über die Schwelle geschafft hatte, verschnaufte ich zunächst ein wenig und schaute mich um, doch die ausgestellten Druckerzeugnisse und Filme erschienen mir ausgesprochen lahm, taugten fürmich allenfalls als Einschlaflektüre. Ich sprach die stark geschminkte Verkaufsangestellte an, ob man denn auch Pornografie von größerer Wirkstärke bekommen könne. Ich hätte nämlich ein erhebliches Problem, seitdem ich Vegetarier sei. Zu meiner Überraschung behandelte sie mich ganz entgegenkommend und freundlich, ja verständnisvoll. Das sei jetzt ein häufig auftretendes Problem, da solle ich mir keine Gedanken machen. Jeden Tag kämen hier Vegetarier mit genau derselben Problematik herein. Ich solle mir beim Hausarzt ein Rezept geben lassen, denn das, was ich brauche, sei verschreibungspflichtig, das könne sie mir nicht einfach über den Tresen reichen.
    Zum Arzt, aha. Ich druckste verlegen herum. Wie sollte ich an so ein Rezept kommen? Meinen Hausarzt hatte ich in den vergangenen Jahren wegen grippaler Infekte, Rückenschmerzen und einmal auch wegen Herzrasen aufgesucht. Es wäre mir doch sehr unangenehm gewesen, ihn nun um so ein Rezept zu bitten. Ob sie da eine Empfehlung hätte?
    Natürlich, sagte die Verkäuferin, gleich zwei Etagen über dem Shop gäbe es eine spezialisierte Arztpraxis. Wenn ich meine Versicherungskarte

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