Wurzeln
lag, schüttelten ihn Schuldgefühle und Scham über das, was er mit sich hatte geschehen lassen. Solange er noch beim Aufwachen hier in seiner Hütte immer wieder aufs neue vor Schreck darüber erstarrte, sich nicht in Juffure zu finden, so lange war er Afrikaner geblieben; aber das war ihm schon seit vielen Jahren nicht mehr passiert. Er war so lange Afrikaner geblieben, als nur die Erinnerung an Gambia und sein Volk ihn aufrecht hielt; aber jetzt konnten Monate vergehen, ohne daß er auch nur ein einziges Mal an sie dachte. Er war so lange Afrikaner geblieben, als ihn damals, in den ersten Jahren, jede neue Schmach noch auf die Knie getrieben hatte, um Allahs Kraft und Verständnis herabzuflehen; wie lange war es her, seit er auch nur richtig zu Allah gebetet hatte?
Er begriff, eine wie große Rolle es dabei spielte, daß er die toubob -Sprache sprechen gelernt hatte. Bei seinen Alltagsgesprächen dachte er nicht einmal mehr an Mandinka-Worte – außer an die wenigen, an denen er aus irgendeinem Grunde besonders hing. Tatsächlich – so machte er sich grimmig klar – dachte er nun schon in der toubob- Sprache . Bei unzähligen Dingen, die er tat oder sagte oder sogar auch dachte, war seine Mandinka-Art allmählich von der der Schwarzen in seiner Umgebung ersetzt worden. Das einzige, worauf er sich, wie er meinte, etwas zugute halten konnte, war, daß er in zwanzig Regen niemals Schweinefleisch angerührt hatte.
Kunta grübelte lange nach; es mußte sich doch außerdem noch irgendwo irgend etwas von seinem eigentlichen Selbst finden lassen. Und tatsächlich, da war auch etwas: er hatte seine Würde noch. Bei allem, was man ihm angetan hatte, hatte er seine Würde bewahrt, wie er früher in Juffure seine Talismane gegen böse Geister bewahrt hatte. Er gelobte sich, daß er seine Würde mehr denn je als Schild zwischen sich und all die anderen, die sich »Nigger« nannten, hochhalten werde. Wie ungebildet sie alle waren. Sie hatten nicht die geringste Ahnung von ihren Vorfahren, über die er von Kindheit an unterrichtet worden war. Kunta wiederholte sich im Geiste die Namen der Kintes, angefangen beim alten Stamm in Mali über die Generationen in Mauretanien bis hin zu seinen Brüdern und ihm in Gambia. Und er dachte daran, daß jedes Mitglied seines kafo über das gleiche angestammte Wissen verfügte.
Diese Gedanken weckten in Kunta die Erinnerung an seine Jugendfreunde. Dann merkte er mit Überraschung und Entsetzen, daß er ihre Namen vergessen hatte. Ihre Gesichter tauchten wieder vor ihm auf, und mit ihnen Erinnerungen an Einzelheiten – wie sie zur Dorfumfriedung hinausgejagt waren, um jedem vorbeiziehenden Reisenden als schnatternde Begleitung in Juffure zu dienen; wie sie mit Stöcken nach den über ihren Köpfen kreischenden Affen warfen, die prompt zu ihnen zurückgeworfen wurden; wie sie sechs dicke Mangofrüchte um die Wette aßen. Aber wie sehr Kunta sich auch bemühte, die Namen fielen ihm nicht ein, nicht einer von ihnen. Und vor seinen Augen erschien sein versammelter kafo und sah ihn stirnrunzelnd an.
Kunta zerbrach sich den Kopf – ob er nun in seiner Hütte saß oder den Masser fuhr. Und endlich tauchten die Namen, einer nach dem anderen, wieder auf: ja, Sitafa Silla, Kuntas bester Freund! Und Kalilu Conteh, der sich auf Geheiß des kintango an den Papagei herangeschlichen und ihn gefangen hatte. S’efo Kela, der den Ältestenrat um Erlaubnis für eine teriya -Beziehung mit jener Witwe gebeten hatte.
Auch die Gesichter der Alten tauchten wieder vor ihm auf, und mit ihnen Namen, von denen er geglaubt hatte, sie längst vergessen zu haben. Der kintango hieß Silla Ba Dibba! Der alimamo Kujali Demba! Der wadanela Karamo Tamba! Und Kunta fiel die Aufnahmezeremonie zum dritten kafo wieder ein, bei der er seine Koranverse so gut gelesen hatte, daß Omoro und Binta dem arafang , dessen Name Brima Cesay war, eine fette Ziege schenkten. Es erfüllte Kunta mit großer Freude, sich an alles zu erinnern – bis ihm einfiel, daß die Alten wahrscheinlich schon tot waren und seine kafo -Kameraden, an die er noch wie an kleine Jungen dachte, jetzt daheim in Juffure ebenso alt waren wie er – und daß er sie nie wiedersehen würde. Zum erstenmal nach vielen Jahren weinte er sich wieder in den Schlaf.
Ein paar Tage später hörte er von einem anderen Kutscher, daß freie Schwarze im Norden, die sich »The Negro Union« nannten, eine Massenrückkehr aller Schwarzen – der freien wie der Sklaven –
Weitere Kostenlose Bücher