Wurzeln
glaubte, vor Freude zu zerspringen.
In den nächsten Tagen merkte er kaum, wohin er fuhr. Ihm wäre es nicht aufgefallen, wenn der Masser den Wagen gezogen hätte und die Pferde hinter ihm auf der Bank gesessen hätten, so erfüllt war er innerlich von Bildern. Er sah Bell den bolong zu den Reisfeldern hinunterpaddeln und dabei seinen Jungen wohlgeborgen im Wickeltuch auf dem Rücken tragen. Kunta dachte kaum noch an etwas anderes als an die tausendfachen Bedeutungen seines künftigen Erstgeborenen, ganz wie er selbst für Binta und Omoro der Erstgeborene gewesen war. Er schwor sich, daß, genau wie sie und andere in Juffure für ihn gesorgt hatten, er diesen seinen Sohn zu einem echten Mann erziehen würde, einerlei, welche Prüfungen und Zufälle hier im Lande der toubobs dazwischenkämen. Denn es war die Aufgabe eines Vaters, für seinen Sohn wie ein gewaltiger Baum zu sein. Während kleine Mädchen einfach mitaßen, bis sie groß genug waren, um zu heiraten und wegzuziehen – außerdem kümmerten sich um die Töchter ohnehin nur die Mütter –, trug der Sohn den Namen und das Ansehen der Familie weiter, und wenn die Zeit kam, da die Eltern alt und gebrechlich wurden, stellte der wohlerzogene Sohn die Sorge um sie über alles andere.
Bells Schwangerschaft führte Kuntas Gedanken tiefer nach Afrika zurück, als die Begegnung mit dem Mann aus Ghana es vermocht hatte. Eines Nachts vergaß er tatsächlich ganz und gar, daß Bell in der Hütte war, während er geduldig die Kiesel in seiner Kürbisflasche zählte und erstaunt feststellte, daß er sein Heimatland nun seit genau zweiundzwanzigeinhalb Regen nicht mehr gesehen hatte. Sonst redete Bell fast unablässig, während er dasaß, noch weniger hörte als gewöhnlich und ins Leere blickte. »Er ist wieder weggetreten in sein Afrikanisches«, sagte Bell dann meistens zu Tante Sukey, und nach einer Weile pflegte sie unbemerkt von ihrem Stuhl aufzustehen, leise in sich hineinmurmelnd den Raum zu verlassen und allein schlafen zu gehen.
In einer dieser Nächte geschah es, etwa eine Stunde nachdem Bell sich hingelegt hatte, daß Kunta von ächzenden Lauten aus der Schlafkammer aufgeschreckt wurde. War es schon soweit? Er stürzte hinein und fand Bell noch schlafend, aber sie wälzte sich hin und her und schien jeden Moment losschreien zu wollen. Als Kunta sich vorbeugte und ihre Wange berührte, setzte sie sich mit einem Ruck im Dunkeln auf. Sie war schweißgebadet und atmete schwer.
»Herrgott, ich hab eine Todesangst um das Baby in meinem Bauch!« stöhnte sie und schlang die Arme um ihn. Kunta verstand dies nicht recht, bis sie sich genügend gefaßt hatte und ihm erzählte, sie habe von einem Spiel auf einem Fest der Weißen geträumt, bei dem als erster Preis das nächste auf der Pflanzung geborene schwarze Baby ausgesetzt worden sei. Bell war so verstört, daß Kunta sich der ganz ungewohnten Aufgabe gegenübersah, sie mit der Versicherung, Masser Waller würde so etwas gewiß nie tun, zu beruhigen. Nachdem er sie zu dieser Meinung bekehrt hatte, legte er sich neben sie, und Bell schlief endlich wieder ein.
Aber Kunta schlief nicht; er lag geraume Zeit wach und dachte daran, was er über solche Dinge gehört hatte – von schwarzen Babys, die schon vor ihrer Geburt weggeschenkt wurden, die am Kartentisch als Spielgewinn galten oder bei Hahnenkämpfen verwettet wurden. Der Fiedler hatte ihm erzählt, wie der sterbende Masser von einer schwangeren fünfzehnjährigen Schwarzen namens Mary seinen fünf Töchtern je eines von Marys ersten fünf Babys testamentarisch vermacht hatte. Er hatte auch von schwarzen Kindern gehört, die als Sicherheit für Darlehen geboten und von wütenden Gläubigern verlangt wurden, wenn sie noch im Mutterleib waren, und von Schuldnern, die sie im vorhinein verkauften, um an Bargeld heranzukommen. Kunta wußte, daß bei den öffentlichen Sklavenauktionen in Spotsylvania der geforderte und erzielte Preis für ein gesundes schwarzes Baby von sechs Monaten, dessen Lebenskraft sicher schien, zur Zeit rund zweihundert Dollar betrug.
Nichts von alledem war ihm ganz aus dem Sinn gekommen, als Bell ihm etwa drei Monate später lachend erzählte, daß die neugierige Missy Anne hatte wissen wollen, warum Bells Bauch immer dicker wurde. »Ich hab Missy Anne gesagt: Schätzchen, ich hab einen großen Kuchen im Ofen.« Kunta war kaum imstande, seinen Ärger über die zärtliche Zuneigung zu verbergen, mit der Bell diesen verwöhnten,
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