Wurzeln
sie nie gesehen hatten, und über Länder, in denen sie nie gewesen waren, denn er erinnerte sich genau, von beiden gehört zu haben, sie seien nie aus Virginia und Nord-Carolina herausgekommen. Er war viel weiter gereist als sie – nicht nur den langen Weg von Afrika hierher, sondern auch im Einspänner des Masser kreuz und quer durch das Land –, aber sie wußten trotzdem so viel mehr als er, daß er auch nach jahrelangen Gesprächen immer noch Sachen erfuhr, von denen er bislang keine Ahnung gehabt hatte.
Es bekümmerte Kunta nicht sonderlich, die eigene Unwissenheit erkennen zu müssen, da die beiden ihm ja halfen, sie zu verringern; aber es bestürzte ihn, als er im Laufe der Zeit feststellen mußte, daß sogar er immer noch besser unterrichtet war als der Durchschnittssklave. Soweit er beobachten konnte, wußten die meisten Schwarzen buchstäblich nicht, wo sie waren, geschweige denn, wer sie waren.
»Wetten, daß die Hälfte von all den Niggern in Virginia nie von der Pflanzung von ihrem Masser weggekommen ist?« bestätigte Bell, als er ihr gegenüber die Rede darauf brachte. »Die haben nie nicht mal was von irgendwo gehört, außer vielleicht von Richmond und Fredericksburg und vom Norden, und haben keinen Dunst, wo sie selber sind. Und die Weißen lassen die Nigger absichtlich im dunkeln, wo sie her sind, weil sie nämlich Angst haben, daß die Nigger dann aufmucken oder abhauen.«
Ehe Kunta Zeit fand, sich von seinem Staunen über solche Einsichten zu erholen, die obendrein von Bell stammten statt vom Fiedler oder vom Gärtner, redete sie schon weiter. »Sag mal, würdest du noch mal durchbrennen, wenn’s irgendwie möglich wär?«
Kunta war von der Frage wie betäubt und antwortete längere Zeit nicht. Endlich sagte er: »Daran hab ich schon lang nicht mehr gedacht.«
»Ich denk oft und oft an ’ne Menge Sachen, wo keiner was von ahnt«, sagte Bell. »Manchmal frag ich mich, wie Freiheit wohl ist – wenn ich zum Beispiel von wem höre, der nach Norden rauf ausgekniffen ist.« Sie sah Kunta fest an. »Egal, wie gut der Masser ist: ich glaub, wenn du und ich jünger wären, würden wir am liebsten noch heute nacht abhauen.« Und da Kunta verblüfft dasaß, fügte sie leise hinzu: »Schätze, ich bin nun zu alt und zu ängstlich.«
Es war, als hätte Bell in diesem Moment seine eigenen Gedanken gelesen, es traf ihn wie ein Faustschlag. Er war zu alt, um noch einmal wegzulaufen, und er war zu oft ausgepeitscht worden. Er hatte Angst. Schmerz und Schrecken jener gehetzten Tage und Nächte kehrten in seine Erinnerung zurück: die blasenüberzogenen Füße, die ausgepumpten Lungen, die reißenden Dornen, das Kläffen der Hunde, ihre knurrenden Rachen, die Flintenschüsse, das schneidende Zucken der Peitsche, die niedersausende Axt. Ehe er sich versah, fiel Kunta in tiefe Niedergeschlagenheit. Bell, die ahnte, woran sie, ohne es zu wollen, gerührt hatte, und wußte, daß jedes weitere Wort, auch eine Entschuldigung, es nur schlimmer machen würde, stand einfach auf und ging zu Bett.
Als Kunta endlich bemerkte, daß sie nicht mehr da war, durchfuhr es ihn wie ein Schmerz, daß er sie bislang so aus seinen Gedanken ausgeschlossen hatte. Wie kläglich hatte er sie und die anderen Schwarzen unterschätzt.
Jetzt endlich begriff Kunta, daß sie nicht weniger als er den Druck, unter dem sie alle lebten, empfanden und verabscheuten, obschon sie es nie zeigten, außer vielleicht denen, die sie liebten. Er wünschte so sehr, er könnte Bell sagen, wie leid es ihm tat, wie er ihren Schmerz teile, wie dankbar er ihre Liebe fühle und wie das Band zwischen ihnen immer stärker und tiefer wurde. Leise stand er auf, ging in die Schlafkammer, zog seine Kleider aus, stieg ins Bett, nahm Bell in die Arme und liebte sie – und sie ihn – mit einer Art verzweifelter Leidenschaft.
Kapitel 68
Mehrere Wochen lang hatte Kunta den Eindruck, daß Bell sich sehr sonderbar benahm. Erstens sprach sie kaum, obwohl sie durchaus nicht schlechter Laune war. Zweitens warf sie ihm merkwürdige Blicke zu und seufzte laut auf, wenn er sie fragend ansah. Sie hatte angefangen, geheimnisvoll vor sich hin zu lächeln, wenn sie sich im Schaukelstuhl wiegte, und dabei manchmal sogar eine Melodie zu summen. Dann, eines Abends, als sie gerade zu Bett gegangen waren und die Kerzen ausgeblasen hatten, griff Bell nach Kuntas Hand und legte sie sanft auf ihren Bauch. Unter seiner Hand regte sich irgend etwas. Kunta fuhr in die Höhe und
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