Wurzeln
über Berge von Leichen bahnen. Sicher, so was klang stark übertrieben, nur konnte leider kein Zweifel daran bestehen, daß die Yankees die meisten der großen Schlachten verloren.
Ende August wurden bejubelte Einzelheiten einer zweiten Schlacht bei »Bull Run« bekannt: Diesmal hatten die Yankees zwei gefallene Generäle zu beklagen, und Tausende ihrer Soldaten flüchteten zurück nach Washington. Zivilisten verließen angeblich schon in Panik die Stadt, und die öffentlichen Gebäude wurden mit Barrikaden gesichert. Sowohl der Staatsschatz wie die Bardepots der Banken wurden nach New York verbracht, während auf dem Potomac-Fluß ein Kanonenboot ständig unter Dampf lag, um notfalls Präsident Lincoln und seinen Stab zu evakuieren.
Schließlich, kaum zwei Wochen später, nahm ein Korps der Konföderierten unter General Stonewall Jackson bei Harpers Ferry 11000 Yankees gefangen.
»Tom, ich will von diesem schrecklichen Krieg nichts mehr hören, verstanden?« sagte Irene eines Abends, als sie vor dem brennenden Herdfeuer saßen. Tom hatte ausführlich von einer Schlacht bei einem Ort namens Antietam berichtet. In beinahe drei Meilen langen Doppelreihen hatten sich dort Konföderierte und Yankees gegenübergestanden, um sich wechselseitig abzuschlachten.
»Begreif doch, ich sitz hier mit unserm dritten Kind im Bauch. Ich find’s nicht in Ordnung, daß wir immer wieder über Krieg und übers Totschlagen reden.«
War da nicht ein leises Geräusch?
Fast gleichzeitig schauten sie hinter sich in Richtung auf die Tür der Hütte. Nein, es war wohl nichts gewesen. Da, schon wieder! Diesmal sogar ein leichtes Pochen. Irene saß näher zur Tür, sie stand auf und öffnete. Tom runzelte die Augenbrauen, das war unverkennbar die bittende Stimme eines Weißen.
»Entschuldigung, habt ihr nicht was zu essen? Ich bin so hungrig.«
Tom fuhr herum, ja, er fiel beinahe vom Stuhl, als er das Gesicht jenes Burschen wiedererkannte, den er zwischen den Abfallkübeln des Kavallerielagers überrascht hatte. Tom versuchte sich zu fassen; das mußte ein mieser Trick sein. Er hörte seine Frau harmlos antworten: »Oje, wir haben nichts – höchstens kalten Maiskuchen, vom Abendessen übriggeblieben.«
»Fein, hätt ich gern – hab seit zwei Tagen kaum was gegessen.«
Das kann nur ein verrückter Zufall sein, sagte sich Tom, stand auf und hielt die Tür weit auf.
»Immer noch auf Betteltour, wie?«
Einen Augenblick lang starrte der Bursche Tom an. Dann weiteten sich seine Augen. Er riß so schnell aus, daß Irene völlig verstört schaute. Das änderte sich auch nur langsam, als Tom ihr verständlich zu machen versuchte, wem sie da beinahe etwas zu essen gegeben hatte.
Matilda erzählte anderntags nach dem Frühstück, »irgendein ausgemergelter armer weißer Bengel« sei plötzlich im Fliegengitter der Küchentür aufgetaucht und habe um etwas Essen gebettelt. Sie habe ihm eine Schale von dem übriggebliebenen Eintopf gegeben, wofür er sich überschwenglich bedankt habe, bevor er verschwunden sei. Später habe sie die leere Schüssel sauber auf dem Treppenabsatz vor der Küche gefunden. Tom dämmerte, um wen es sich da abermals handelte.
»Wenn du ihn gefüttert hast, hängt er hier bestimmt irgendwo rum«, sagte er, »wahrscheinlich pennt er draußen im Wald. Ich trau ihm nicht. Bevor wir uns umdrehn, bringt der uns noch in Schwierigkeiten.«
»Wenn der wieder auftaucht, werd ich ihm sagen, er soll hübsch warten, und wenn er schon denkt, ich schwirre rum und mach ihm ’nen Teller voll – lauf ich schnell rüber und steck’s dem Masser«, verschwor sich Matilda.
Als der Junge am nächsten Morgen pünktlich wieder erschien, war die Falle sozusagen schon aufgestellt. Von Matilda gedrängt, lief Masser Murray seitlich um das Haus herum, während sie selbst an der Küchentür blieb, um ja nicht diesen Moment der totalen Überraschung für den auf Essen lauernden Jungen zu verpassen.
»Was treibst du dich hier herum?« fragte Masser Murray streng. Aber der Bursche geriet keineswegs in Panik, noch schien ihn das alles überhaupt anzurühren.
»Ich bin auf Achse, Mister, und ich bin hungrig. Das wollt Ihr mir doch nicht vorhalten, oder? Wo Eure Nigger so nett waren, mir was zu essen zu geben.«
Masser Murray zögerte.
»Hm, das versteh ich ja. Aber du weißt, wie schlecht die Zeiten sind. Wir können’s uns nicht leisten, fremde Mäuler zu stopfen. Also hau ab.«
Matilda hörte, wie die Stimme des jungen Burschen einen
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