Wurzeln
Ebou Manga war von kleiner Statur mit wachen Augen und zurückhaltenden Manieren – und er war rabenschwarz. Sichtlich erstaunt darüber, von mir solche Laute zu hören, bestätigte er sie nicht ohne vorsichtige Prüfung. War Mandinka seine Muttersprache?
»Nein, das nicht, obwohl sie mir nicht unvertraut ist.«
Er sei ein Wolof, sagte er. Im Zimmer seines Studentenwohnheims teilte ich ihm Näheres über meine Fragen mit. Schon am Ende der folgenden Woche reisten wir zusammen nach Gambia. Nach der Ankunft in Dakar, Senegal, am nächsten Morgen, nahmen wir eine kleinere Maschine, die uns zu dem winzigen Flughafen von Yundum in Gambia brachte.
Im Bus fuhren wir dann in die Hauptstadt Banjul, früher Bathurst. Ebou und sein Vater, Hadschi Manga – die Bevölkerung von Gambia besteht überwiegend aus Moslems –, riefen eine kleine Gruppe von Leuten zusammen, die sich in der Geschichte ihres kleinen Landes auskannten. Wir trafen uns in der Halle des Atlantic Hotel. So wie vorher Dr. Vansina in Wisconsin, erzählte ich nun diesen Männern die Familiengeschichte, wie sie über die Generationen überliefert war. Ich erzählte sie rückwärts, von Großmutter her, über Tom, Hühner-George bis zu Kizzy, und daß sie erwähnte, ihr Vater habe gegenüber den anderen Sklaven darauf bestanden, sein Name sei »Kin-tay«, und wie er ihr zu wiederholten Malen verschiedene Gegenstände in seiner Sprache bezeichnet hatte.
Als ich geendet hatte, sagten sie beinahe belustigt: »Natürlich, ›Kamby Bolongo‹ bedeutet ›Gambia-Fluß‹, das weiß jedes Kind.«
Ich erwiderte aufgeregt: »Nein, eine ganze Menge Leute weiß das eben nicht!« Erheblich größeres Interesse zeigten sie daran, daß mein Vorfahr von 1760 erklärt habe, er heiße »Kin-tay«.
»Die ältesten Orte in unserem Land sind in der Regel nach den Familien benannt, die diese Plätze vor Jahrhunderten besiedelt haben«, sagten sie. Man ließ eine Karte kommen und zeigte mir einen Ort.
»Bitte, das hier ist das Dorf Kinte-Kundah. Und nicht weit davon entfernt ein Dorf namens Kinte-Kundah-Janneb-Ya.« Dann erfuhr ich etwas, wovon ich mir niemals hätte träumen lassen: Da gab es sehr alte Männer – man nannte sie »griots« –, die man übrigens noch heute in den abgelegenen Teilen des Hinterlandes finden konnte. Und diese Männer waren tatsächlich so etwas wie wandelnde, leibhaftige Chroniken mündlich überlieferter Geschichte. Gewöhnlich war ein Senior -griot ein Mann Ende Sechzig, Anfang Siebzig. Rangmäßig unter ihm standen, altersmäßig abgestuft, jüngere griots – bis hin zu einer Art von Lehrlingen. Normalerweise brauchte so ein Lehrling vierzig bis fünfzig Jahre, bevor er die Qualifikation eines Senior- griot erreichte, der dann bei gewissen Anlässen die oft jahrhundertealte Geschichte von Orten, Stämmen, von Familien oder großen Helden zu erzählen pflegte. Durch ganz Schwarzafrika waren solche mündlich überlieferten Chroniken seit Urväterzeiten weitergegeben worden, wie man mich informierte. Und es gab einige berühmte griots , die Ausschnitte aus der afrikanischen Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes mehr als drei Tage lang erzählen konnten, ohne sich jemals zu wiederholen.
Als diese gambischen Männer mein Erstaunen sahen, erinnerten sie mich daran, daß der Stammbaum jedes Menschen bis in eine Zeit zurückreicht, in der es noch keine Schrift gab. Damals konnte nur das menschliche Gedächtnis sowie Mund und Ohren Information und Wissen aufbewahren und weitergeben. Man hielt mir vor, wir Menschen westlicher Kultur seien so abhängig von der »Krücke des schriftlich fixierten Wortes«, daß nur wenige von uns tatsächlich wüßten, wie aufnahmefähig ein geübtes Gedächtnis ist.
Weil mein Vorfahr sich »Kin-tay« nannte – korrekt buchstabiert »Kinte«, wie man mir sagte – und weil der Clan der Kinte alt und wohlbekannt in Gambia war, versprach man mir, alles Mögliche zu unternehmen, um einen griot zu finden, der meine Nachforschungen würde unterstützen können.
Zurück in den Vereinigten Staaten, begann ich wie besessen Bücher über afrikanische Geschichte zu studieren, um meine Unwissenheit über den zweitgrößten Kontinent zu überwinden. Es bringt mich bis zum heutigen Tag in Verlegenheit, daß bis dahin meine Vorstellungen von Afrika von Tarzan-Filmen geprägt waren und daß das wenige an wirklicher Kenntnis von dem gelegentlichen Durchblättern des Magazins National Geographic herrührte. Jetzt plötzlich las
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