Wurzeln
rief die beiden zu sich her.
Er sagte: »Ich komme aus dem Dorf Kootacunda im Königreich Wooli, wo die Sonne über dem Wald von Simbani aufgeht, und woher kommt ihr?« Seine Stimme klang hoch und brüchig. Kunta sagte: aus Juffure, und der Greis nickte. »Davon habe ich gehört.« Er befrage soeben seine Muscheln, ob der rechte Zeitpunkt gekommen sei, eine Reise nach Timbuktu anzutreten. »Timbuktu will ich sehen, bevor ich sterbe«, sagte er und fragte, ob die jungen Leute ihm behilflich sein wollten. »Wir sind arm, Großvater«, sagte Kunta, »wollen aber gern mit dir teilen, was wir haben«, und er setzte sein Bündel ab, holte etwas Trockenfleisch heraus und reichte es dem Greis, der sich bedankte. »Seid ihr Brüder?« fragte er und sah sie forschend an.
»Ja, Großvater«, antwortete Kunta.
»Das ist recht«, sagte der Alte und nahm zwei seiner Muscheln auf. »Näh dir diese Muschel auf deinen Jagdbeutel, sie wird dir Glück bringen«, sagte er zu Kunta und reichte ihm eine. Und auch Lamin gab er eine: »Bewahre sie auf, bis du ein Mann bist und selbst eine solche Tasche hast.« Beide bedankten sich, und er wünschte Allahs Segen auf sie herab.
Sie waren schon wieder eine ganze Weile unterwegs, als Kunta es an der Zeit fand, das Schweigen zwischen ihm und dem Bruder zu brechen. Er begann also zu reden, doch ohne stehenzubleiben oder sich umzuwenden: »Es heißt, wandernde Mandinkas hätten jener Stadt den Namen gegeben, die der alte Mann noch einmal sehen möchte. Sie fanden dort ein Insekt, das sie nie zuvor gesehen hatten, und nannten es ›Tumbo Kuto‹, das bedeutet ›Neues Insekt‹.« Als keine Antwort erfolgte, sah Kunta zurück. Lamin stand weit hinter ihm über sein Bündel gebeugt. Es war offenbar aufgegangen, und der Inhalt lag über den Weg verstreut. Lamin suchte alles zusammen. Kunta kehrte um. Anscheinend hatte Lamin es fertiggebracht, das auseinanderfallende Bündel geräuschlos vom Kopf gleiten zu lassen; er wollte um keinen Preis das Schweigegebot brechen, indem er Kunta bat stehenzubleiben. Kunta half ihm das Bündel schnüren und sah dabei, daß Lamins Sohlen blutig waren. Das war aber zu erwarten, und er bemerkte dazu nichts. Lamin nahm das Bündel wieder auf. In seinen Augen standen Tränen. Sie setzten wortlos den Weg fort. Kunta machte sich Vorwürfe, weil ihm entgangen war, wie Lamin zurückblieb; er hätte ihn ja verlieren können!
Sie waren noch nicht weit gegangen, als Lamin einen erstickten Schrei ausstieß. Kunta nahm an, sein Bruder sei in einen Dorn getreten, und drehte sich um. Da sah er, daß Lamin entsetzt auf einen Punkt weiter vorne starrte. Dort kauerte auf einem über den Pfad ragenden Ast ein Panther, und Kunta wäre im nächsten Moment drunter hergegangen. Der Panther fauchte verhalten und war gleich darauf im Blättergewirr verschwunden. Kunta ging weiter, schwer betroffen, gereizt, beschämt. Wieso hatte er den Panther nicht selbst gesehen? Zwar war zu vermuten, daß der Panther nichts weiter wollte als ungesehen bleiben, daß er sie nicht angegriffen hätte, denn große Wildkatzen jagten bei Tage nur, wenn sie ganz ausgehungert waren, und Menschen nahmen sie kaum je an, es sei denn, sie würden gereizt oder wären verwundet. Immerhin, Kunta sah die Ziege vor sich, die ihm der Panther gerissen hatte, als er noch ein Hütejunge war, und hörte den kintango streng sagen: »Die Sinne des Jägers müssen stets geschärft sein. Er muß hören, was andere nicht hören können, riechen, was andere nicht riechen. Er muß auch im Dunkeln sehen.«
Gesehen hatte ihn aber Lamin, während er, Kunta, gedankenverloren dahingetrottet war. Das ist überhaupt meine größte Schwäche, dachte er, ich muß sie unbedingt ablegen. Ohne im Gehen innezuhalten, bückte Kunta sich nach einem Stein, spuckte dreimal drauf und warf ihn weit den Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Stein sollte auf diese Weise Kuntas Pech mit sich fortnehmen.
Sie wanderten unter der stechenden Sonne weiter. Der grüne Wald machte allmählich Palmen und schlammigen Wasserläufen Platz. Sie passierten mehrere Dörfer, wo ganz wie in Juffure die Männer unterm Brotbaum saßen, die Frauen am Brunnen schwatzten und Kinder des ersten kafo lärmend ausschwärmten. Allerdings ließen die Leute hier ihre Ziegen zusammen mit Hühnern und Hunden im Dorf umherwandern, statt sie einzusperren oder auf die Weide zu treiben, wie man es daheim machte. Es waren offenbar andersgeartete Menschen.
Sie wanderten über
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