Wurzeln
etwas Alltägliches vor. Eltern neugeborener Kinder wünschten ein größeres Reisfeld, um mehr Münder stopfen zu können, unverheiratete junge Männer wie Kunta baten um Zuteilung eines Stückes Feld – so etwas war schnell abgetan. Der kintango hatte den jungen Leuten im jujuo aber eingeschärft, möglichst keine Beratung zu versäumen, denn es würde ihnen helfen, selber die richtige Entscheidung zu fällen, wenn sie in den Jahren, bevor sie Älteste wurden, am Entscheidungsprozeß so oft wie möglich teilgenommen hätten. Kunta sah bei der ersten Sitzung nachdenklich auf den vor ihm sitzenden Omoro und überlegte, wie viele hundert Urteilssprüche er wohl gehört und sich eingeprägt haben mochte, und er gehörte doch noch nicht zu den Ältesten.
Bei dieser Gelegenheit wurde ein Streit um den Ertrag gewisser Bäume verhandelt, die A gepflanzt hatte, die nun aber auf Land standen, das B zugesprochen worden war, denn der hatte viele Kinder zu ernähren, während in der Familie A mehrere Personen gestorben waren. Der Ältestenrat sprach gleichwohl A die Früchte zu: »Denn es gäbe keine Früchte, hätte A die Bäume nicht gepflanzt.«
Bei späteren Sitzungen ging es oft darum, daß jemand, der Sachen verliehen hatte, die Entleiher beschuldigte, diese Sachen beschädigt oder verloren zu haben, die dann selbstverständlich immer wertvoll und funkelnagelneu gewesen waren. Konnte der Entleiher nicht glaubhaft machen, daß es sich um alte, schlechte Stücke gehandelt hatte, mußte er gewöhnlich die Sache zum Neuwert ersetzen. Dann wieder beschuldigten die streitenden Parteien einander, durch bösen Zauber Unglück gestiftet zu haben. Ein Mann sagte aus, er sei schwer erkrankt, nachdem ein anderer ihn mit einem Hahnensporn berührt habe. Eine junge Frau behauptete, ihre Speisen verdürben regelmäßig, weil die Schwiegermutter eine bestimmte Zauberwurzel in der Küche versteckt habe. Eine Witwe beschuldigte einen Greis, dessen Werbung sie abgewiesen haben wollte, Eierschalen vor ihr auf den Weg gestreut und verursacht zu haben, daß sie von einem Mißgeschick ins andere falle; sie beschrieb jedes einzelne ausführlich. Lagen ausreichende Beweise für den bösen Willen und die Wirksamkeit des schlimmen Zaubers vor, bestimmten die Ältesten, daß mit der Trommel der zunächst befindliche Zauberer herbeigerufen wurde, der dann auf Kosten des Übeltäters einen Gegenzauber veranstalten sollte.
Kunta hörte, daß man Schuldner zur Zahlung verurteilte, auch wenn das bedeutete, daß sie ihr ganzes Hab und Gut verkaufen mußten oder, wenn sie nichts besaßen, ihre Schuld als Sklave des Gläubigers auf dessen Feld abarbeiten mußten. Sklaven beschuldigten ihre Herren der Grausamkeit, warfen ihnen vor, nicht ausreichend für Essen und Unterkunft zu sorgen oder mehr als die Hälfte vom Ertrag ihrer Arbeit zu fordern. Die Herren wiederum beschuldigten die Sklaven, einen Teil des Ertrages zu verstecken, nicht genug zu arbeiten, vorsätzlich Werkzeug zu beschädigen. Kunta sah, daß die Ältesten in solchen Fällen nicht nur sorgsam alle Beweise prüften, sondern auch in Betracht zogen, welchen Ruf die streitenden Parteien im Dorf hatten, und nicht selten war der der Sklaven besser als der ihrer Herren.
Dann wieder ging es nicht um einen Streit zwischen Herren und Sklaven, vielmehr traten beide gemeinsam vor und baten um die Erlaubnis zur Einheirat des Sklaven in die Familie des Herrn. Übrigens mußten alle Paare, die heiraten wollten, die Erlaubnis der Ältesten haben. Waren die beiden zu nahe verwandt miteinander, wurde die Erlaubnis ohne weiteres verweigert; bestanden diese Bedenken nicht, mußten die Paare gleichwohl einen Monat lang warten, und während dieser Zeit erwarteten die Ältesten von kundigen Dorfbewohnern zu hören, was es Gutes oder Nachteiliges über das Paar zu berichten gab. Handelte es sich um wohlerzogene Personen, hatte einer von beiden je innerhalb oder außerhalb der Familie Anlaß zu Beanstandungen gegeben? Hatte einer von beiden sich wiederholt Unaufrichtigkeit zuschulden kommen lassen? War das Mädchen als streitsüchtig oder reizbar bekannt? Prügelte der Mann grausam seine Ziegen? Traf etwas davon zu, wurde die Heirat untersagt, denn man wollte nicht, daß schlechte Eigenschaften vererbt wurden. Kunta wußte aber schon von früher her, daß Heiratsgesuche meist bewilligt wurden, weil die betroffenen Eltern alle solche Fragen bereits zuvor zur Zufriedenheit geprüft hatten, sonst wären sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher