Wurzeln
zunächst liegenden Stock und zog Lamin eins über. Das hätte sich mehrfach wiederholt, wäre er nicht in Kuntas Hütte geflüchtet. Er klopfte nicht einmal an, sondern stürmte hinein – eine unentschuldbare Unhöflichkeit, die Kunta allerdings nicht mißbilligte, als er die Miene seines Bruders sah. Lamin stand vor ihm, unfähig, ein Wort herauszubringen, er strahlte seinen Bruder nur an und zitterte am ganzen Leibe. Kunta mußte sich zwingen, seinen Bruder nicht zu umarmen und ihn spüren zu lassen, wie sehr er ihn liebte.
Statt dessen hörte er sich beinahe barsch sagen: »Du hast es also schon gehört. Morgen, nach dem ersten Gebet, brechen wir auf.«
Als Kunta etwas später die Freunde aufsuchte, die sich um sein Feld kümmern und für ihn Wache halten sollten, ging er Binta sorgsam aus dem Weg, auch wenn er jetzt ein Mann war. Wo sie sich gerade befand, blieb ihm nicht verborgen: ihre jüngsten Knaben bei der Hand führend, marschierte sie laut klagend durchs ganze Dorf. »Nur diese beiden sind mir geblieben!« jammerte sie immer von neuem, so laut sie konnte. Doch sie wußte ebensogut wie alle anderen, daß einerlei war, was sie empfand oder sagte, denn Omoro hatte gesprochen.
Kapitel 30
Am Baum der Reisenden verrichtete Kunta ein Gebet; er bat Allah, die Reise möge ungefährdet vonstatten gehen. Damit es auch eine erfolgreiche Reise sei, befestigte er ein mitgebrachtes Huhn an einem Bein an einem der unteren Äste, wo es zeternd und flügelschlagend hing, als Kunta und Lamin losmarschierten. Kunta blickte sich nicht um, er wußte ohnedies, daß Lamin sich mächtig anstrengte, mit ihm Schritt zu halten, die Last nicht von seinem Kopf zu verlieren und von alledem Kunta nichts merken zu lassen.
Nach einer Stunde kamen sie an einen Baum, dessen Äste fast bis zum Boden reichten und der über und über mit Perlenketten behängt war. Kunta hätte Lamin gern erklärt, dieser Baum zeige an, daß in der Nähe einige der wenigen noch ungläubigen Mandinkas lebten, die Tabak schnupften und aus irdenen Schälchen rauchten und Kaffernbier aus vergorenem Honig tranken. Es war aber wichtiger, daß Lamin an die Disziplin des wortlosen Marschierens gewöhnt wurde. Gegen Mittag hatte Lamin gewiß schon starke Schmerzen in Füßen und Schenkeln, auch die Halsmuskeln taten ihm sicherlich vom Tragen der Kopflast weh, doch er sollte abgehärtet werden, und das verlangte, daß der Marsch trotz allem fortgesetzt wurde. Allerdings mußte man eine Pause machen, bevor Lamin zusammenbrach, denn das hätte seinen Stolz verletzt und ihm geschadet.
Das erste Dorf umgingen sie auf dem dafür vorgesehenen Pfad und schüttelten die Kleinen des ersten kafo ab, die herzugelaufen kamen, sie zu begutachten. Ohne sich umzusehen, wußte Kunta, daß Lamin dieser Kinder wegen gewiß rascher ging und sich straff aufgerichtet hatte. Als man die Kinder hinter sich gelassen hatte, wanderten Kuntas Gedanken zu anderen Gegenständen. Er stellte sich die Trommel vor, die er für sich anfertigen wollte – zuerst mußte sie in seinen Gedanken Form annehmen, so wie die Statuen, welche die Schnitzer anfertigten, auch erst in deren Vorstellung vorhanden waren, bevor sie mit der eigentlichen Arbeit begannen. Das Trommelfell hatte er schon – die Haut einer jungen Ziege, die abgeschabt in seiner Hütte in einem Kübel Gerbsäure lag. Wo er das kräftige Holz für den Rahmen finden würde, wußte er auch schon – ganz in der Nähe der Reisfelder. Fast hörte er den Klang der fertigen Trommel. Als der Pfad durch einen Hain dicht stehender Bäume führte, faßte Kunta, wie man ihn gelehrt hatte, seinen Speer fester. Er ging sehr vorsichtig, blieb stehen lauschte. Lamin stand mit aufgerissenen Augen hinter ihm und hielt vor Spannung den Atem an. Gleich darauf setzte Kunta den Weg fort, denn was er gehört hatte, waren die Stimmen einiger Männer, die jetzt ein Lied sangen. Kurz darauf traten die beiden Kinte auf eine Lichtung hinaus und erblickten hier zwölf Männer, die an Seilen einen Einbaum zogen. Sie hatten einen Baum gefällt, die Äste abgehauen und den Stamm ausgebrannt und waren nun damit auf dem Weg an den Fluß. Hatten sie ein Stück gezogen, setzten sie ab und sangen die nächste Strophe ihres Liedes, die jeweils mit der Aufforderung endete: »Nun, alle zusammen.« Dann legten sich alle ins Seil und zerrten den Einbaum eine weitere Armlänge vorwärts. Kunta winkte ihnen im Vorbeigehen zu, die Männer winkten zurück, und Kunta nahm sich vor,
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