Wurzeln
zu schreien an. Man mußte ihm die Leiter hinauf an Deck helfen, und hier zeigte sich, daß das Bein brandig geworden war und selbst an der frischen Luft widerlich stank. Als die anderen hinuntergetrieben wurden, blieb der Kranke oben. Die Frauen berichteten bald darauf in ihrem Singsang, daß man dem Mann das Bein abgenommen und ihm eine der Frauen zur Pflege beigegeben hatte, daß er aber noch in derselben Nacht gestorben und ins Meer geworfen worden war. Wenn die toubobs jetzt herunterkamen, um die Pritschen zu säubern, tauchten sie glühende Eisenstücke in Eimer mit Essig. Der davon aufsteigende säuerliche Dampf vertrieb den Gestank aber nur vorübergehend, und bald roch es wieder so entsetzlich wie zuvor. Kunta glaubte, daß der Gestank für alle Zeiten in seiner Nase und auf der Haut haften würde.
Das Murmeln und Flüstern, das einsetzte, sowie die toubobs gegangen waren, nahm an Lautstärke und Intensität im gleichen Maße zu, wie die Verständigung unter den Gefangenen besser wurde. Nichtverstandene Wörter wurden von Mund zu Ohr gewispert, bis jemand, der mehr als eine Sprache sprach, sie übersetzte. Dabei lernten alle Beteiligten Wörter in Sprachen, die sie zuvor nie gesprochen hatten. Daß sie sich ohne Wissen der toubobs miteinander verständigen konnten, war geradezu aufregend, und nach und nach entstand zwischen ihnen ein deutlicheres Gefühl des Zusammenhalts und der Brüderlichkeit. Kamen sie auch von verschiedenen Dörfern und Stämmen, wurde ihnen doch mehr und mehr zur Gewißheit, daß sie ein und demselben Volk angehörten.
Beim nächsten Aufenthalt an der frischen Luft gelang es einigen von denen, die mehrere Sprachen sprachen, die Plätze so zu tauschen, daß sie jeweils ans Ende einer Pritschenreihe zu liegen kamen und ihre Übersetzungen schneller weiterleiten konnten. Die toubobs schienen das nicht zu bemerken; entweder konnten sie einen Gefangenen vom anderen nicht unterscheiden, oder es war ihnen gleichgültig.
Fragen und Antworten gingen hin und her. »Wo werden wir hingebracht?« Die Antwort lautete verbittert: »Wer ist je zurückgekommen, um uns das zu sagen?« – »Sie sind alle gefressen worden!« Die Frage »Wie lange sind wir schon hier?« löste Vermutungen aus bis zur Dauer eines Mondes; einer, der die Tage hatte zählen können, weil neben seinem Platz ein kleiner Luftschacht war, sagte dann aber, achtzehn Tage seien vergangen seit der Abfahrt.
Weil immer wieder toubobs mit dem Essen oder mit Bürsten kamen, mochte ein ganzer Tag vergehen, bevor Antworten auf eine Frage eintrafen. Alle forschten eifrig nach Bekannten und Stammesangehörigen. »Ist jemand hier aus dem Dorf Barrakunda?« hieß es eines Tages, und nach einer Weile kam die Antwort von Mund zu Ohr: »Ja, ich, Jabon Sallah, bin hier!« Einmal geriet Kunta vor Aufregung fast außer sich, als der Wolof fragen ließ: »Ist jemand hier aus dem Dorf Juffure?« – »Ja, Kunta Kinte!« antwortete er und lag fast atemlos da, bis nach einer Stunde die Auskunft kam: »Ja, das war der Name. Ich habe die Trommeln seines trauernden Dorfes gehört.« Kunta fiel ein Schluchzen an, er sah seine Familie im Kreis um einen flatternden weißen Hahn sitzen, der auf dem Rücken liegend starb, worauf der wadanela die traurige Nachricht unter die Leute brachte, die dann Omoro, Binta, Lamin, Suwadu und Madi ihr Beileid aussprachen, während die Dorftrommeln allen, die es hören konnten, die Nachricht übermittelten, daß ein Sohn des Dorfes mit Namen Kunta Kinte von jetzt an für verloren galt.
Tagelang suchte man Antworten auf Fragen wie: Können wir die toubobs angreifen und töten? Hat jemand an Deck Nachlässigkeiten oder schwache Stellen bei den toubobs bemerkt, die sich bei einem Überraschungsangriff ausnützen ließen? Die Antwort war: nein. Die nützlichste Information stammte von den Frauen und war übermittelt worden, während die Männer in ihren Ketten tanzten: ungefähr dreißig toubobs waren mit ihnen auf diesem Kahn. Die Männer hatten geglaubt, es wären viel mehr, die Frauen hatten jedoch Gelegenheit, sie zu zählen. Die Frauen sagten, zu Beginn der Fahrt seien mehr toubobs an Bord gewesen, fünf seien inzwischen gestorben. Man habe sie in weiße Tücher genäht, ins Meer geworfen und der Weißhaarige habe dazu aus einem Buch vorgelesen. Von den Frauen hörten sie auch, daß die toubobs miteinander stritten und sich prügelten, meist wegen der Reihenfolge, in der sie die Frauen gebrauchten.
So erfuhren die in
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