Wurzeln
Ketten tanzenden Männer von den Frauen fast alles, was sich auf dem großen Kahn zutrug, und redeten später darüber unten im Dunkeln. Eines Tages kam die erregende Nachricht, daß man Verbindung zu den Männern hergestellt hatte, die im unteren Laderaum angekettet waren. Alle lagen mucksmäuschenstill, als jemand nahe der Luke fragte: »Wie viele seid ihr dort unten?« Nach einer Weile kam die Antwort herauf: »Wir glauben, ungefähr sechzig.«
Das Weitergeben von Nachrichten aus welcher Quelle auch immer gab ihnen Lebensmut. Blieben Neuigkeiten aus, erzählten die Männer von ihren Familien und Dörfern, von der Arbeit auf dem Feld und von der Jagd. Und immer häufiger stritt man darüber, wie die toubobs zu töten wären und bei welcher Gelegenheit. Einige waren der Ansicht, man solle sie ohne Rücksicht auf die Folgen gleich beim nächsten Mal auf Deck angreifen. Andere meinten, es sei klüger, einen günstigen Augenblick abzuwarten. Die Debatte wurde jäh unterbrochen, als die Stimme des Ältesten ertönte: »Hört mir zu! Zwar gehören wir verschiedenen Stämmen an und sprechen verschiedene Sprachen, doch vergeßt nicht, daß wir vom gleichen Volk sind! Wir müssen hier an diesem Ort wie ein einziges Dorf zusammenhalten.«
Beifälliges Gemurmel breitete sich im Laderaum aus. Diese Stimme hatte man schon früher vernommen, sie hatte in Zeiten besonderer Not Rat gegeben. Es war eine Stimme, aus der Erfahrung, Autorität und Klugheit sprachen. Bald ging die Nachricht von Mund zu Ohr, daß der Sprecher alcala seines Dorfes gewesen war. Nach einer Weile sagte er, man müsse sich auf einen Anführer und einen Angriffsplan einigen, ehe man darauf hoffen könne, die toubobs zu überwinden, da sie offenkundig straff geleitet und schwer bewaffnet waren. Wiederum erhob sich zustimmendes Murmeln.
Das neue und tröstliche Gefühl der Gemeinsamkeit ließ Kunta fast den Gestank, den Schmutz und sogar Läuse und Ratten vergessen. Doch dann wurde der Argwohn geäußert, im unteren Laderaum könnte ein slati liegen. Eine Frau hatte gesehen, wie die toubobs einen der slatis , die sie an Bord gebracht hatten, betrunken machten und anschließend in den Laderaum hinunterstießen; sie hatten ihn in der Nacht nicht erkennen können, glaubten aber, daß er jetzt zwischen den anderen lag und alles daransetzte, nicht erkannt zu werden. Dies teilte sie in der üblichen Weise mit, und nun befürchteten die Männer, dieser slati , der vermutlich ein paar Wörter toubob sprach, könnte den Angriffsplan verraten, um sein armseliges Leben zu retten.
Kunta schlug wütend mit seiner Kette nach einer fetten Ratte. Kein Wunder, daß er so wenig von slatis gewußt hatte. Keiner von ihnen konnte wagen, in einem Dorf zu wohnen, wo ihm der sofortige Tod gewiß gewesen wäre, hätte man ihn auch nur verdächtigt, ein slati zu sein. In Juffure hatte Kunta gemeint, sein Vater Omoro und andere ältere Männer machten sich völlig unnötigerweise abends am Feuer Sorgen wegen irgendwelcher Gefahren, über die er und andere junge Burschen sich erhaben wähnten. Jetzt begriff er, weshalb die älteren Männer um die Sicherheit des Dorfes besorgt gewesen waren. Sie hatten offenbar gewußt, daß sich mancher slati in der Gegend herumtrieb. Die verabscheuten sasso-borro- Kinder von toubob- Vätern waren an der helleren Hautfarbe leicht zu erkennen; aber nicht alle. Kunta erinnerte sich jetzt des Mädchens aus seinem Dorf, das von toubobs aufgegriffen und später geflohen war und kurz vor seiner, Kuntas, Entführung vom Rat der Ältesten hatte wissen wollen, was mit seinem kleinen sasso-borro- Kind geschehen sollte. Was die Ältesten wohl über sie beschlossen hatten?
Einige slatis , so erfuhr er jetzt, versorgten lediglich die toubob- Kähne mit Indigo, Gold und Elefantenzähnen. Aber es gab Hunderte, die den toubobs halfen, Dörfer niederzubrennen und Menschen einzufangen. Kunta hörte, daß Kinder mit Zuckerrohrstückchen angelockt wurden und dann Säcke über die Köpfe gestülpt bekamen. Es wurde berichtet, slatis hätten die Geraubten während der Fußmärsche nach ihrer Gefangennahme erbarmungslos geschlagen. Eine schwangere Frau war unterwegs gestorben, ein von Peitschenhieben verwundetes Kind hatte man einfach verbluten lassen. Je mehr Kunta von solchen Dingen hörte, desto größer wurde sein Zorn auch auf sich selber.
Er hörte deutlich, wie sein Vater ihn und Lamin eindringlich ermahnte, nie allein irgendwohin zu gehen; hätte er ihm nur
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