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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Fischer war beteiligt. Und natürlich Apostel, die das Wort verbreiteten: der Fotograf, der in Eliäns Schlafzimmer wohnte, die TV-Filmleute, die mit Verträgen winkten, Verlagshäuser, die das gleiche taten, CNN selbst und all die anderen Nachrichtenteams mit ihren Uplink-Schüsseln und pelzigen Mikros. In Kuba wurde der kleine Junge inzwischen in ein ganz anderes Totem verwandelt. Eine sterbende Revolution, eine Revolution der Alten und Struppigbärtigen beschlagnahmte das Kind als Beweis für ihre wiedergefundene Jugend. In dieser Version wurde der aus dem Wasser emporsteigende Eliän zum Inbegriff der Unsterblichkeit der Revolution: eine Lüge. Fidel, der uralte Fidel, hielt endlose Reden mit einer Eliän-Maske vor dem Gesicht.
    Juan Miguel Gonzalez, der Vater, blieb lange in seiner Heimatstadt Cärdenas und sagte wenig. Er wolle seinen Sohn zurückhaben, sagte er, was vielleicht würdevoll war und vielleicht genug. Professor Solanka, der überlegte, was er selbst tun würde, wenn seine Onkels und Cousins sich zwischen ihn und Asmaan stellen würden, zerbrach dabei einen Bleistift. Dann schaltete er wieder auf das Baseballspiel zurück, aber es war zu spät. El Duque, selbst ein Kuba-Flüchtling, würde Solankas Meinung in diesem Fall nicht teilen. Diese Meinung, in der Asmaan Solanka und Eliän Gonzalez miteinander verschmolzen, brachte ihn wieder einmal in Rage und wies ihn daraufhin, daß sich in seinem eigenen Fall keine Verwandten zwischen Solanka und seinen Sohn zu stellen brauchten. Weil er den Bruch ganz ohne Hilfe von außen bewirkt hatte. Während in ihm die hilflose Wut aufstieg, griff er wieder einmal auf seine erprobte Technik der Sublimierung zurück und lenkte den Zorn nach außen, auf den ideologisch übergeschnappten Miami-Mob, verwandelt durch Erfahrung in das, was diese Leute selbst am meisten haßten. Die Flucht vor der Bigotterie hatte sie in Bigotte verwandelt. Sie schrien Journalisten an, beschimpften Politiker, die anderer Meinung waren als sie, schüttelten die Fäuste gegen vorüberfahrende Autos. Sie sprachen vom Übel der Gehirnwäsche, während auch ihre eigenen Gehirne eindeutig verschmutzt waren. »Nicht Waschen, sondern Verschmutzen«, schrie Solanka sogar unwillkürlich dem kubanischen Werfer im Fernsehen zu. »Ihr seid doch alle von eurem Leben verschmutzt. Und dieser kleine Junge auf der Schaukel, während sich hundert Kameraobjektive an seiner Verwirrung delektieren, was erzählt ihr ihm über seinen Vater?« Wieder einmal mußte er alles durchleiden: das Zittern, das Hämmern, das Luftschnappen, die Dusche, die Dunkelheit, das Atmen, die Visualisierung. Keine Drogen; die hatte er sich selbst verboten, genau wie er die Seelenklempner mied. Der Gangster Tony Soprano mochte zu einem Seelenklempner gehen, aber scheiß drauf, der war Fiktion. Psychoanalyse und Chemie kamen ihm vor wie Betrug. Wenn das Duell wirklich gewonnen, wenn der Dämon, der Besitz von ihm ergriffen hatte, auf die Matte und zur Hölle geschickt werden sollte, mußten nur sie beide den Kampf austragen, splitternackt, hemmungslos und mit bloßen Fäusten, einen Kampf auf Leben und Tod.
    Es war schon dunkel, als Malik Solanka sich bereit fühlte, die Wohnung zu verlassen. Aufgewühlt, nach außen hin jedoch flott und munter, machte er sich auf den Weg zur Kieslowski-Doppelvorstellung. Wäre er ein Veteran des Vietnamkrieges oder auch nur ein Reporter gewesen, der zuviel im Leben mitangesehen hatte, wäre sein Verhalten jederzeit für verständlich gehalten worden. Wenn Jack Rhinehart, ein amerikanischer Dichter und Kriegskorrespondent, den er seit zwanzig Jahren kannte, von einem klingelnden Telefon aus dem Schlaf gerissen wurde, zertrümmerte er den Apparat noch heute. Er konnte nicht anders und war noch halb im Schlaf, wenn er das tat. Jack verschliß eine Menge Telefone, akzeptierte aber sein Schicksal. Er war kriegsversehrt und konnte von Glück sagen, daß es nicht schlimmer war. Aber der einzige Krieg, den Professor Solanka ausgefochten hatte, war das Leben selbst, und das Leben war freundlich zu ihm gewesen. Er hatte Geld und das, was die meisten Leute für eine ideale Familie hielten. Sowohl seine Frau als auch sein Sohn waren Ausnahmemenschen. Und doch hatte er mitten in der Nacht in der Küche gesessen und Mordgedanken gehegt; an echten Mord gedacht, nicht metaphorischen. Sogar ein Tranchiermesser hatte er mit nach oben genommen und eine schreckliche, betäubte Minute lang vor dem Körper seiner

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