Wut
Großstadt-Skylines bei Sonnenuntergang. Da er nicht wußte, wie er reagieren sollte, machte Solanka eine unbestimmte Geste. »Die Copy-Line«, soufflierte ihm Skywalker. »Ist die okay?« Alle Bilder trugen dieselbe Überschrift. IN DER AMERICAN EXPRESS INTERNATIONAL BANKING CORPORATION GEHT DIE SONNE NICHT UNTER. »Gut. Wirklich gut«, sagte Solanka, ohne zu wissen, ob sie wirklich gut, mittelmäßig oder miserabel waren. Vermutlich war irgendwo auf der Welt immer ein American-Express-Büro offen, deswegen traf die Aussage wahrscheinlich zu, obwohl es zweifelhaft schien, daß es für einen Menschen in, sagen wir, London nützlich war, zu wissen, daß die Banken in Los Angeles noch geöffnet waren. Das alles behielt er jedoch für sich und machte eine, wie er hoffte, verständnisvolle, zustimmende Miene. Aber Skywalker wollte eindeutig mehr. »Als Brite«, bohrte er, »würden Sie sagen, daß die Briten beleidigt sein würden?«
Das war wirklich rätselhaft. »Wegen des britischen Empire, meine ich. In dem die Sonne nicht untergeht. Es soll keine Beleidigung sein. Das muß ich ganz sicher wissen. Daß die Line nicht als Beleidigung der glorreichen Vergangenheit Ihres Landes aufgefaßt wird.« Professor Solanka spürte, wie ein mächtiger Zorn in seiner Brust aufstieg. Er empfand den dringenden Wunsch, diesen Kerl mit dem idiotischen Aliasnamen anzuschreien, ihn zu beschimpfen und vielleicht sogar tatsächlich zu ohrfeigen. Es kostete ihn viel Mühe, sich zusammenzunehmen und dem ernsten jungen Mark in seiner David-Ogilvy-Klon-Aufmachung gelassenen Tones beruhigend zu versichern, daß selbst die rotgesichtigsten Colonels in England sich über diese banale Formulierung nicht aufregen würden. Dann eilte er in seine Wohnung zurück, machte mit klopfendem Herzen die Tür zu, lehnte sich an die Wand, schloß die Augen, rang nach Luft und zitterte. Ja, das war die Kehrseite der Medaille seiner neuen Hallo-wie-geht’s-, rundheraus-, direkt-ins-Gesicht-, BRUSTAMPUTATIONS-BH-Umgebung: diese neue, kulturelle Hyperempfindlichkeit, diese fast pathologische Angst, beleidigend zu wirken. Okay, er wußte das, jeder wußte das, aber das war nicht der springende Punkt. Der springende Punkt war: Woher kam dieser heftige Zorn? Warum wurde er immer wieder urplötzlich von Wutanfällen heimgesucht, die fast stärker waren als seine Selbstbeherrschung?
Er nahm eine kalte Dusche. Dann legte er sich für zwei Stunden ins verdunkelte Schlafzimmer, mit eingeschalteter Klimaanlage und laufendem Deckenventilator gegen die Hitze und die Luftfeuchtigkeit. Seine Atmung zu kontrollieren half ein wenig, außerdem benutzte er Visualisierungs-Techniken, um sich zu entspannen. Er stellte sich die Wut als lebendes Objekt vor, einen weichen, dunklen, pulsierenden Klumpen, und malte in Gedanken ein rotes Dreieck um ihn herum. Dann machte er das Dreieck immer kleiner, bis der Klumpen endlich verschwand. Das funktionierte. Der Herzschlag wurde wieder normal. Er schaltete den Schlafzimmer-Fernseher ein, ein surrendes und klapperndes altes Monstrum von Apparat aus einer früheren Generation der Technik, und sah El Duque am Abschlag zu, beobachtete seinen verblüffenden, hyperbolischen Wurf. Der Werfer krümmte sich zusammen, bis seine Nase fast das Knie berührte, und entrollte sich dann wie eine Peitsche. Selbst in dieser unberechenbaren, fast panischen Zeit in der Bronx strahlte Hernandez Ruhe aus. Professor Solanka machte den Fehler, kurz auf CNN zu schalten, wo sich wieder mal alles um Eliän drehte. Professor Solanka wurde übel von dem ewigen Bedürfnis der Menschen nach Totems. Ein kleiner Junge war durch einen Rettungsring im Meer gerettet worden, seine Mutter war ertrunken, und sofort hatte die religiöse Hysterie eingesetzt. Die tote Mutter war fast so etwas wie eine Marienfigur geworden, und es gab Poster, auf denen ELIAN, RETTE UNS stand. Der Kult, geboren aus Miamis dringendem Bedürfnis nach Dämonologie - nach der Castro, der Teufel, Hannibal-the-Cannibal Castro, den Jungen lebendig verschlingen, seine unsterbliche Seele herausreißen und sie mit ein paar Fava-Bohnen und einem Glas Rotwein hinunterspülen würde ließ auch sofort eine Priesterschaft entstehen. Der gräßliche, auf die Medien fixierte Onkel war der gesalbte Papst des Elianismo, und seine Tochter, die arme Marisleysis mit ihrer nervlichen Erschöpfung , war genau der Typ, der schon bald damit beginnen würde, die ersten Wundertaten des Siebenjährigen zu bezeugen. Sogar ein
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