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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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getummelt, hatte ein intellektuelles Geistesleben gelebt. Diese revidierte Ausgabe, über die er schon lange die schöpferische Kontrolle verloren hatte, besaß dagegen den Intellekt eines leicht überalterten Schimpansen. Tag für Tag wurde sie mehr zu einem Teil des Entertainment-Mikroversums, ihre Musikvideos - o ja, sie nahm jetzt auch Songs auf! - übertrafen die von Madonna, ihre Auftritte bei Premieren waren Hurley-ähnlicher als die aller Starlets, die jemals in einem gewagten Kleid den roten Teppich betreten hatten. Sie war Videospiel und Covergirl und dabei - jedenfalls trat sie so auf - im wesentlichen eine Frau, deren eigener Kopf vollständig in dem der Puppen-Ikone verborgen war. Trotzdem bewarben sich zahlreiche Aspirantinnen auf Starruhm um die Rolle, obwohl der Braingirl-Trust - der so groß wurde, daß die BBC ihn nicht mehr halten konnte, und er sich zu einer florierenden, unabhängigen Firma entwickelte, die irgendwann bald die Millarden-Dollar-Grenze zu durchbrechen gedachte - auf absoluter Vertraulichkeit bestand; die Namen der Frauen, die Braingirl Leben verliehen hatten, wurden niemals verraten, obwohl es jede Menge Gerüchte gab und die Paparazzi in Europa und Amerika ihre ganz spezielle Erfahrung ins Spiel brachten und behaupteten, diese Schauspielerin oder jenes Model an den anderen, nicht dem Gesicht zugehörigen Attributen erkannt zu haben, die Braingirl so voll Stolz zur Schau trug.
    Erstaunlicherweise verlor das hohlköpfige Braingirl durch das neue Glamour-Image keine Fans, es gewann vielmehr eine ganz neue Anhängerschaft erwachsener, männlicher Bewunderer hinzu. Sie war nicht mehr aufzuhalten, gab Pressekonferenzen, bei denen sie davon sprach, eine eigene Filmproduktionsfirma zu gründen, eine eigene Zeitschrift zu lancieren, in der Schönheitstips, Lifestyle-Ratschläge und kritische, zeitgenössische Kultur das ganz spezielle Braingirl-Treatment erhalten würden, und sie kündigte sogar an, in den gesamten USA im Kabelfernsehen aufzutreten. Es sollte eine Broadway-Show geben - sie verhandelte mit allen Hauptdarstellern der Musical-Szene, dem lieben Tim, dem lieben Elton, dem lieben Cameron und, natürlich, dem lieben, lieben Andrew -, und außerdem war ein neuer Big-Budget-Film geplant. Der würde nicht die sentimentalen Teeny-Bopper-Fehler des ersten wiederholen, sondern organisch aus den Millionen einbringenden Memoiren erwachsen. »Braingirl ist keine Plastik-Phantastik-Barbie-Spice«, erklärte sie der Welt - sie hatte es sich angewöhnt, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen -, »und der neue Film wird wirklich sehr menschlich werden, Qualitätsarbeit durch und durch. Marty, Bobby, Brad, Gwynnie, Meg, Julia, Tom und Nie sind alle interessiert; außerdem Jenny, Puffy, Maddy, Robbie und Mick: Ich glaube, heutzutage wollen alle das Braingirl sein.«
    Der ständig wachsende Triumph des Braingirls gab natürlich Anlaß zu zahlreichen Kommentaren und Analysen. Ihre Bewunderer wurden wegen ihrer primitiven Besessenheit verhöhnt, aber sofort meldeten sich berühmte Theaterpersönlichkeiten zu Wort und sprachen von der uralten Tradition des Maskentheaters, das seine Ursprünge in Griechenland und Japan hat. »Die maskierte Schauspielerin ist von ihrer Normalität, ihrer Alltäglichkeit befreit. Ihr Körper erfreut sich außerordentlicher neuer Freiheiten. All das wird von der Maske diktiert. Die Maske ist es, die agiert.« Professor Solanka hielt sich abseits und lehnte alle Einladungen zu Diskussionen über sein außer Kontrolle geratenes Geschöpf ab. Das Geld vermochte er jedoch nicht abzulehnen. Die Tantiemen flössen weiterhin auf sein Bankkonto. Die Habgier bemächtigte sich seiner, und diese Habgier verschloß ihm die Lippen. Vertraglich verpflichtet, die Gans, die goldene Eier legte, nicht zu attackieren, mußte er seine Gedanken zurückhalten und, weil er ganz auf sich allein angewiesen war, die bittere Galle seiner zunehmenden Unzufriedenheit schlucken. Mit jeder neuen Medien-Initiative, angeführt von der Figur, die er einst mit so großer Freude und Sorgfalt entworfen hatte, wuchs in ihm die ohnmächtige Wut.
    Im Hello! -Magazin gestattete Braingirl - für eine angeblich siebenstellige Summe — den Lesern einen privaten Blick in ihr wunderschönes Landhaus, das offenbar ein alter Queen-Anne-Bau in der Nähe des Prince of Wales in Gloucestershire war, und Malik Solanka, ursprünglich von den Puppenhäusern im Rijksmuseum inspiriert, war wie vom Donner gerührt

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