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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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 moralischen Rechte an seiner Erfindung geschützt wurden, und handelte für sich einen ansehnlichen Anteil an den Merchandising-Einkünften aus. Ansehen mochte er die Show nicht mehr. Aber Braingirl ließ keinen Zweifel daran, daß sie froh war, als er ging.
    Sie war über ihren Schöpfer hinausgewachsen - buchstäblich; denn sie war jetzt lebensgroß und um etwa zehn Zentimeter größer als Solanka - und ging ihrer eigenen Wege in der Welt. Genau wie Hawkeye, Sherlock Holmes oder Jeeves hatte sie die Arbeit, aus der sie entstanden war, hinter sich gelassen und die fiktive Version der Freiheit erreicht. Sie pries Produkte im Fernsehen an, eröffnete Supermärkte, hielt Tischreden und leitete Gong-Shows. Als Brain Street abgelaufen war, war sie zu einer bekannten Fernsehpersönlichkeit aufgestiegen. Sie hatte ihre eigene Talkshow, trat als Gast in neuen Hit-Comedies auf, ging für Vivienne Westwood auf den Laufsteg und wurde von Andrea Dworkin - intelligente Frauen brauchen keine Puppen zu sein - attackiert, weil sie Frauen herabwürdige, und von Karl Lagerfeld ( welcher echte Mann will eine Frau mit einem größeren, ich sage mal, Wortschatz als er? ), weil sie Männer entmanne. Beide Kritiker erklärten sich anschließend sofort einverstanden, gegen hohe Beratungsgebühren einer Konzeptgruppe hinter B.G. beizutreten, einem Team, das bei der BBC als Braingirl-Trust bekannt war. Braingirls bubble-gum-poppiger Debütfilm Brainwave war ein seltener Fehltritt und grandioser Flop, aber der erste Band ihrer Memoiren(!) setzte sich, sobald er angekündigt wurde, sogar Monate vor seinem Erscheinen sofort an die Spitze der Amazon-Bestsellerlisten und erzielte über eine viertel Million allein an Vorbestellungen von hysterischen Fans, die unbedingt die ersten sein wollten. Nach dem Erscheinen brach er alle Rekorde; ein zweiter, dritter und vierter Band folgten, einer pro Jahr, und die Bücher verkauften sich nach vorsichtigen Schätzungen weltweit insgesamt über fünfzig Millionen Mal.
    Sie war die Maya Angelou der Puppenwelt - eine genauso unbarmherzige Autobiographin wie jener andere Vogel im Käfig - und ihr Leben das Vorbild für Millionen junger Menschen: die bescheidenen Anfänge, die Jahre des Kampfes, der triumphale Erfolg; und, o ja, ihre Unerschrockenheit angesichts von Armut und Grausamkeit! Oh, diese Freude, als das Schicksal sie zu einer jener Auserwählten machte, zu denen sich voll Stolz auch Mila Milo zählte, die Kaiserin des Cool in der West Seventieth Street. (Ihr ungelebtes Leben! dachte Solanka. Ihre fiktive Vergangenheit, teils phantastisches Märchen, teils bettelarme Getto-Saga, und alles ghostwritten für sie von anonymen Leuten mit Pseudo-Talent! Dies war nicht das Leben, das er sich für sie vorgestellt hatte; dies hatte nichts mehr mit der Vorgeschichte zu tun, die er sich voller Stolz und Freude erträumt hatte. Diese B.G. war eine Hochstaplerin mit der falschen Lebensgeschichte, dem falschen Dialog, der falschen Persönlichkeit, der falschen Garderobe, dem falschen Brain . Irgendwo im Medienland gab es ein Chateau d’If , wo das echte Braingirl gefangengehalten wurde. Irgendwo gab es eine Puppe mit einer Eisernen Maske. )
    Das Seltsame an ihrer Fangemeinde war ihre Allgemeingültigkeit: Jungens liebten sie genauso wie Mädchen, Erwachsene genauso wie Kinder. Sie überschritt sämtliche sprachlichen, rassischen und sozialen Barrieren. Sie wurde, je nachdem, die ideale Geliebte ihrer Bewunderer, ihre Vertraute oder das Ziel ihrer eigenen Wünsche. Der erste Band ihrer Memoiren wurde von den Amazon-Leuten in die Sachbuch-Liste aufgenommen. Der Entschluß, ihn und die folgenden Bände in die Welt des schönen Scheins zu befördern, wurde sowohl von den Lesern wie von den Angestellten kritisiert. Braingirl, argumentierten sie, sei längst keine Erfindung mehr. Sondern ein Phänomen. Die Fee hatte sie mit ihrem Zauberstab berührt, und sie war real.
    Dies alles beobachtete Malik Solanka aus der Ferne mit steigendem Entsetzen. Diese seiner eigenen Phantasie entsprungene Kreatur, geboren aus seinem besten Ich und reinstem Bemühen, verwandelte sich vor seinen Augen in genau die Art Monster von geschmackloser Berühmtheit, die er am allertiefsten verabscheute. Sein ursprüngliches, nun aber ausgelöschtes Braingirl war von Natur aus intelligent gewesen, durchaus in der Lage, mit Erasmus oder Schopenhauer zu plaudern. Sie war schön und scharfzüngig gewesen, aber sie hatte sich im Meer der Ideen

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