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Wut

Wut

Titel: Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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ihrer Myriaden von Versionen, Papier, Stoff, Holz, Plastik, Zeichentrick, Videoband, Film; und mit ihr verschwand unvermeidlicherweise auch eine einstmals kostbare Version seiner selbst. Er hatte es nicht ertragen können, diesen Akt der Vertreibung persönlich auszuführen. Eleanor erklärte sich bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Eleanor, die zusah, wie sich die Krise aufbaute - die roten Äderchen in den Augen des Mannes, den sie liebte, der Alkohol, das ziellose Umherwandern -, sagte auf ihre sanfte, doch resolute Art: »Du gehst jetzt den ganzen Tag aus dem Haus und überläßt alles andere mir.« Sie hatte ihre eigene Verlagskarriere unterbrochen, weil Asmaan im Moment alles war, was sie an Karriere brauchte, aber sie war ein Erfolgsmensch gewesen und immer noch überall begehrt. Auch das verbarg sie vor ihm, obwohl er nicht dumm war und wußte, was es bedeutete, wenn Morgen Franz und andere anriefen, um mit ihr zu sprechen, und eine halbe Stunde lang auf sie einredeten. Sie war begehrt, das war ihm klar, alle waren begehrt, nur er nicht, aber er konnte sich wenigstens diese armselige Rache gönnen; er konnte auch mal etwas nicht begehren, selbst wenn es nur dieses doppelgesichtige Wesen war, diese Verräterin, diese, diese ... Puppe .
    Also verließ er am verabredeten Tag das Haus, stapfte im Eilmarsch über die Hampstead Heath - sie wohnten in einem geräumigen, zweigiebligen Haus an der Willow Road und hatten sich stets darüber gefreut, die Heath, North Londons Schatz, seine Lunge, direkt vor der Tür zu haben -, und während er fort war, hatte Eleanor alles sorgfältig verpackt und in einen Langzeit-Lagerraum gebracht. Er hätte es vorgezogen, den ganzen Krempel auf die Müllkippe von Highbury zu werfen, aber auch darin ließ er sich überreden. Eleanor hatte darauf bestanden. Sie besaß einen stark ausgeprägten archivarischen Instinkt, und da er sie für dieses Projekt brauchte, quittierte er ihre kritischen Bemerkungen mit einer Handbewegung wie gegen eine lästige Mücke und erhob keine Einwände. Stundenlang marschierte er, ließ sich die heftig bewegte Brust von der kühlen Musik der Heath, ihrem stillen Herzrhythmus der gemächlichen Wege und Bäume und später am Tag von den süßen Geigenklängen eines Sommerkonzerts auf dem Iveagh Bequest beruhigen. Als er nach Hause kam, waren die Braingirls verschwunden. Oder vielmehr, fast verschwunden. Denn ohne Eleanors Wissen war eine Puppe in einem Schrank in Solankas Arbeitszimmer verschlossen. Und da blieb sie.
    Das Haus wirkte leer, als er zurückkam, ausgeräumt, wie ein Haus nach dem Tod eines Kindes. Solanka hatte das Gefühl, auf einmal zwanzig, dreißig Jahre gealtert zu sein; als stehe er, vom besten Werk seiner jugendlichen Begeisterung getrennt, endlich Auge in Auge mit der unbarmherzigen Zeit. Waterford-Wajda hatte vor Jahren im Addenbrooke von einem solchen Gefühl gesprochen. »Das Leben wird so, ich weiß nicht, so endlich. Du erkennst, daß du nichts hast, daß du nirgendwo hingehörst, daß du die Dinge nur für eine Weile benutzt. Die leblose Welt lacht dich aus: Du wirst bald gehen, sie aber wird bleiben. Nicht sehr tiefschürfend, Solly, das klingt nach der Philosophie von Pooh, dem Bären, ich weiß, aber es zerreißt dir trotzdem das Herz.« Dies ist nicht einfach der Tod eines Kindes, dachte Solanka: Es ist eher wie ein Mord. Kronos, der seine Tochter verschlingt. Er war der Mörder seines fiktiven Kindes: nicht Fleisch von seinem Fleische, sondern Traum von seinem Traume. Aber da war ein lebendiges Kind, noch immer wach und überdreht von den Ereignissen des Tages: dem Eintreffen des Möbelwagens, der Packer, dem ständigen Hinein und Hinaus von Kisten. »Ich habe geholfen, Daddy«, begrüßte Asmaan seinen Vater eifrig. »Ich hab geholfen, Braingirl wegbringen.« Er kam mit zwei aufeinanderfolgenden Konsonanten noch nicht gut zurecht und sagte statt br nur b: B’aingi’l. Er hat ja recht, dachte Solanka. Sie ist mein bane geworden, mein Verderben. »Ja«, antwortete er zerstreut. »Gut gemacht.« Aber Asmaan hatte noch mehr auf dem Herzen. »Wieso mußte sie Weggehen, Daddy? Mummy hat gesagt, du willst, daß sie weggeht.« Ach ja? Mummy hat das gesagt? Soso. Vielen Dank, Mummy. Er funkelte Eleanor an, die nur die Achseln zuckte. »Ehrlich, ich wußte nicht, was ich ihm sagen sollte. Das ist nun deine Aufgabe.«
    Im Kinderfernsehen, in Comic-Heften und in Hörbuchausgaben ihrer legendären Memoiren hatte Braingirls proteische

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