Wut
über diese jüngste Wendung. Nun sollten diese hochnäsigen Puppen also auch noch große Villen besitzen, während der größte Teil der Menschheit in engsten Unterkünften hauste? Das Unrecht - in seinen Augen der moralische Bankrott - dieser ganz besonderen Entwicklung beunruhigte ihn zutiefst; dennoch hielt er, weit davon entfernt, selber bankrott zu gehen, den Mund und nahm das schmutzige Geld dankend an. Zehn Jahre lang hatte er, wie Art Garfunkel wohl in sein Mikro gesagt hätte, einen ganzen Haufen Selbstverachtung und Rage in sich angesammelt. Die Wut stand über ihm wie eine brechende Hokusai-Welle. Braingirl war sein kriminelles Kind, zu einer rasenden Riesin herangewachsen, die jetzt alles darstellte, was er verabscheute, und mit ihren riesigen Füßen alle hehren Prinzipien zertrampelte, die zu preisen er sie erschaffen hatte; darunter offensichtlich auch seine eigenen.
Das B.G.-Phänomen hatte in den 1990ern begonnen und ließ auch im neuen Jahrtausend keinen Hinweis auf ein Nachlassen der Schwungkraft erkennen. Malik Solanka war gezwungen, sich eine schreckliche Wahrheit einzugestehen: Er haßte Braingirl.
Mittlerweile trug alles, was er in die Hand nahm, nur noch eher kärgliche Früchte. Er trat weiterhin mit Figuren und Storylines an die neuerdings erfolgreichen britischen Produzenten von Sendungen mit sprechenden Puppen heran, erfuhr aber, freundlich wie auch unfreundlich, daß seine Konzepte nicht mehr zeitgemäß seien. In einer Geschäftswelt junger Menschen war er etwas viel Schlimmeres geworden als einfach nur älter: Er war altmodisch. Bei einer Sitzung, in der über seinen Vorschlag diskutiert wurde, einen Trickfilm in Feature-Länge über das Leben Niccolö Machiavellis zu drehen, gab er sich allergrößte Mühe, die neue Sprache des Kommerzialismus zu sprechen. Im Film sollten natürlich anthropomorphische Tiere auftreten, welche die menschlichen Originale darstellten. »Da ist wirklich alles drin«, begeisterte er sich ungeschickt. »Das Goldene Zeitalter von Florenz! Die Medici in all ihrer Pracht - coole Aristocats! Simonetta Vespussy, die schönste Katze der Welt, unsterblich gemacht durch den jungen Hund Barkicelli. Die Geburt der Felinen-Venus! Le Sacre du Pussy-Printemps! Während Amerigo Vespussy, der alte Seelöwe, ihr Onkel, lossegelt, um Amerika zu entdecken! Savona-Roland, der Rattenmönch, entzündet das Feuer der Eitelkeiten! Und im Mittelpunkt von allem, eine Maus. Aber nicht einfach die alte Mickey Mouse: Dies hier ist die Erfinderin der Realpolitik, die brillante Dramatiker-Maus, der berühmte Volksnager, die republikanische Maus, die eine Folter durch den grausamen Katzenfürsten überlebt hat und im Exil von einem Tag der glorreichen Wiederkehr träumt ...« Unhöflich wurde er von einem Manager der Finanziers unterbrochen, einem rundlichen jungen Mann, der höchstens dreiundzwanzig Jahre alt sein konnte. »Florenz ist gut«, sagte er. »Gar keine Frage. Das gefällt mir. Und Niccolö, wie haben Sie ihn genannt?, Mausiavelli klingt... machbar. Aber was Sie sonst noch da haben - dieses Treatment -, ich will’s mal so sagen. Das hat Florenz einfach nicht verdient. Vielleicht, ja?, ist es jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für die Renaissance in Plastilin.«
Ich könnte ja wieder Bücher schreiben, dachte er, merkte aber schon bald, daß er nicht mit dem Herzen dabei war. Die Unerbittlichkeit der Geschehnisse, die Tendenz der Ereignisse, ihn von seinem Weg abzulenken, hatte ihn verdorben und ihn im wahrsten Sinne des Wortes zum Taugenichts gemacht. Sein altes Leben hatte ihn endgültig verlassen, und auch die neue Welt, die er erschaffen hatte, war ihm durch die Finger geschlüpft. Er war James Mason, ein untergehender Stern, trank viel, ertrank in Niederlagen, und diese verdammte Puppe flog in der Judy-Garland-Rolle bis in den Himmel hinein. Bei Pinocchio endeten Geppettos Sorgen, als die verflixte Marionette zu einem echten, lebendigen Jungen wurde; bei Braingirl war das, wie bei Galatea, der Anfang. In seinem trunkenen Zorn belegte Professor Solanka sein undankbares Frankengirl mit Bannflüchen: Aus den Augen soll sie mir gehen! Verschwinde, unnatürliches Kind. Siehe, ich kenne dich nicht. Du sollst nicht meinen Namen tragen. Laß mich nie mehr zu dir kommen, bitte niemals um meinen Segen. Und nenne mich niemals wieder Vater.
Bald darauf verließ sie sein Haus, und zwar in all ihren Variationen: den Zeichnungen, Maquetten, Tableaus, den endlosen Auswüchsen all
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