Xeelee 3: Ring
ziemlich düster in der Kabine; die graue Atmosphäre hatte das Boot völlig eingehüllt, so daß nur die Kabinenbeleuchtung von der transparenten Hülle reflektiert wurde.
»Und wußtest du schon, daß es auf Titan auch Jahreszeiten gibt?« fuhr Seilspinnerin fort. »Es ist jetzt Frühling; man muß mit starken Turbulenzen rechnen.«
Als das Boot den Sinkflug fortsetzte, wurde es von einer neuen Turbulenz durchgeschüttelt; Louise glaubte schon, ein Knacken in seiner Struktur gehört zu haben.
»Frühling«, murmelte Louise. »›Wo sind die Frühlingslieder? He, wo bleiben sie?‹«
»Louise?«
»John Keats, Seilspinnerin. Keine Sorge.«
Die Turbulenzen schienen nachzulassen; sie mußte die stratosphärischen Höhenwinde durchstoßen haben. Sie zog die Gurte stramm, die sie an den Sitz fesselten. Außerhalb der Hülle ließ die Kabinenbeleuchtung Flocken aus gefrorenem Ammoniak erstrahlen, und feine Wirbel aus schmutzigem Gas schossen an dem Boot vorbei und verschwanden außer Sicht.
»Es ist verdammt finster«, murmelte sie.
»Louise, du tauchst jetzt in ein Gemisch aus Methan, Ethan und Argon ein. Es ist ein Smog aus photochemischen Substanzen, der durch die Einwirkung der solaren Magnetosphäre auf die Atmosphäre erzeugt wird – ich kann eine Menge Wasserstoffcyanid erkennen und…«
»Das weiß ich alles selbst«, grummelte Louise und hielt sich am Sitz fest, als das Boot erneut einen Satz machte. »Du brauchst mir nicht den ganzen Bildschirminhalt vorzulesen. Ich bin nicht hierher gekommen, um photochemische Substanzen zu suchen.«
»Was denn sonst?«
»… Menschen, Seilspinnerin.«
Früher war dies die bevölkerungsreichste Welt jenseits der Jupiterumlaufbahn gewesen: Titan hatte die entlegensten Städte der Menschheit beherbergt. Wenn Louises Überlegungen zufolge jemand die Verwüstungen überlebt hatte, von denen die inneren Welten betroffen worden waren, dann nur hier.
Sie mußte sehen, was vorging. Louise schlug auf die Steuerfläche vor sich. Die Wandung des Bootes nahm eine perlige Struktur an. Sie forderte eine Virtuelldarstellung an, eine Synthese aus Radar- und sonstigen Daten.
Unter ihr, in den virtuellen Fenstern des Beibootes, nahm die Landschaft des Titan Gestalt an wie in einem Traum.
Sie ging in den Horizontalflug und schickte das Boot über die unscharfe virtuelle Darstellung hinweg, achtzig Kilometer über der Oberfläche.
Titan hatte einen Kern aus Felsen, der von einem dicken Mantel aus Wassereis umhüllt wurde. Unterhalb der sichtversperrenden Decke der Atmosphäre wurden achtzig Prozent der festen Eisoberfläche von Ozeanen aus flüssigem Methan und Ethan mit einem hohen Kohlenwasserstoffanteil bedeckt. Der verbleibende Rest des ›trockenen‹ Eises war indessen zu gering, um Kontinente zu bilden; statt dessen formierten sich über das Methan hinausragende Gebirgszüge aus Wassereis zu Inselketten und langen Halbinseln.
Nun, die Ozeane existierten noch immer. In Gedanken ging Louise die alten, vertrauten Namen durch: Da gab es das Kuiper-Meer, den Galilei-Archipel, den Huygens-Ozean, die James-Maxwell-Bucht…
Von den Menschen jedoch, die einst diese Topographie benannt hatten, fehlte jede Spur. Es hatte den Anschein, als ob es sie nie gegeben hätte.
Früher hatten große Fabrikschiffe diese komplexen Ozeane befahren und hohes, öliges Kielwasser hinter sich hergezogen; in diesen riesigen Schiffen waren genug Nahrungsmittel produziert worden, um ganz Titan zu versorgen und die meisten anderen Kolonien im Saturnsystem dazu. Wenn sie nur gründlich genug beobachtete, würde sie vielleicht noch Spuren von im Eisboden der chemischen Meere eingeschlossenen, großen Metallwracks finden.
Aber nun tauchte etwas am stark gekrümmten Horizont auf: Eine Konfiguration, die ihr fremd war. Sie beugte sich auf ihrem Sitz nach vorne, um besser sehen zu können.
Es war eine Bergkette aus Wassereis, die aus den Ozeanen emporstieg und ihr Gesichtsfeld ausfüllte, als sie sich über den Horizont der Welt schob.
»Seilspinnerin – schau!«
»Ich kann es nicht deutlich erkennen – es scheint nicht auf den Karten verzeichnet zu sein…«
»Karten?« grummelte Seilspinnerin. »Wir könnten den ganzen Krempel genausogut über Bord werfen.«
Es war der Rand eines Kraters – eines so großen Kraters, daß er sich wie eine riesige Narbe um den Planeten zog. Innerhalb der kilometerhohen Kraterwände plätscherten die Niedergravitationswellen eines neuen, tiefen und stillen
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