Xeelee 3: Ring
einen kräftigeren Ast und setzte sich darauf, wobei er die Beine um den Astansatz klammerte. Er legte Bogen und Köcher vorsichtig neben sich und verstaute sie sicher. Er holte etwas Dörrfleisch aus dem Gürtel und schaute sich um, während er auf dem zähen, salzigen Zeug herumkaute.
Nun hatte er die Krone des Kapok-Baumes fast erreicht. Die letzten Äste des großen Baumes hoben sich vor der dunklen Himmelskuppel ab, und ihre bräunlichen Blätter raschelten.
Das Blätterdach befand sich vielleicht dreißig Meter unterhalb der Himmelskuppel, aber dieser eine gigantische Kapok erhob sich über die anderen, wobei seine höchsten Äste fast die Kuppel berührten. Die Dunkelheit des Abends ließ diese Oberwelt fast genauso düster erscheinen wie den weit unter ihm liegenden Waldboden. Aber Pfeilmacher kannte sich mit dem Kapok aus; schließlich war er den größten Teil seiner achtzig Jahre dort herumgeklettert.
Er stand auf dem Gipfel der Welt. Weit entfernt flatterte ein Vogel über den Himmel, dessen buntes Gefieder sich markant gegen das abnehmende Licht abhob. Die Äste des Kapok hingen als dichte, verschlungene Masse unter ihm und verdeckten den riesigen Stamm. Samen – flockige Daunenfragmente – schwebten überall herum und übersäten das Laub mit dem letzten Tageslicht. Zehn Meter unterhalb der Baumkrone war das Blätterdach ein gewellter Teppich, eine dichte Schicht aus Grün – die mit der einsetzenden Nacht ein öliges Schwarz annahm –, die sich bis zum Horizont erstreckte und gegen die Wandung der Himmelskuppel selbst schwappte.
Garry Uvarov hatte Pfeilmacher hier hinauf geschickt, um den Himmel zu inspizieren. Also wandte Pfeilmacher das Gesicht nach oben.
Er war versucht, eine Hand auszustrecken und zu sehen, ob er den Himmel berühren konnte.
Das konnte er natürlich nicht – die Himmelskuppel war noch immer mindestens sechs Meter über ihm –, aber es wäre ohne weiteres möglich gewesen, einen Pfeil abzuschießen und ihn gegen das unsichtbare Dach prallen zu sehen.
Der Himmel war unverändert. Die Sterne waren schwache, unregelmäßige Einsprengsel und fielen in der Leere des Himmels kaum auf. Die meisten Sterne waren dunkelrote Lichtpunkte, wie Blutstropfen, und oft nur schwer zu erkennen.
Uvarov hatte früher nie Interesse für die Sterne gezeigt; jetzt hatte er Pfeilmacher auf einmal angewiesen, auf die Bäume zu klettern und sich auf einen Himmel voller Sterne einzustellen, weiße, gelbe und blaue. Nun, er hatte sich ganz schön getäuscht.
Pfeilmacher spürte, daß der alte Uvarov ein wichtiger Mann war: Wertvoll wie ein Talisman. Aber im Laufe der Jahre wirkten seine Anweisungen und Befehle zunehmend irrational.
Pfeilmacher hielt nach den Himmelskonstellationen Ausschau, die er von seiner Kindheit her kannte. Hier standen die drei Sterne mit einheitlicher Leuchtkraft; dort der vertraute Sternenkreis, der von einem hellen, scharlachroten Glühen dominiert wurde.
Nichts hatte sich an dem Himmel über ihm, an den Sternen jenseits der Kuppel verändert. Pfeilmacher wußte nicht einmal, wonach er in Uvarovs Auftrag überhaupt suchen sollte.
Er kletterte hinab in die Krone des Kapok, so daß sich eine schützende grüne Schicht zwischen ihn und den blanken Himmel schob. Dann sicherte er sich mit einem Seil am Baumstamm, legte einen Arm unter den Kopf und wartete auf den Schlaf.
Das auf- und abschwellende Heulen der Sirene hallte von den Häusern wider, den leeren Straßen und der Wandung der Kuppel.
Morrow erwachte sofort.
Für einen Moment lag er im Bett und schaute zu der diffusen Helligkeit empor, in welche die Decke über ihm getaucht war.
Wenigstens fiel ihm das Aufwachen leicht. Manchmal versagten die Sirenen morgens – sie waren genauso unvollkommen und störanfällig wie alle anderen Ausrüstungsgegenstände der Welt – aber selbst dann öffnete er die Augen noch rechtzeitig. Er stellte sich sein Gehirn als ein verschlissenes, altes Ding vor, in dessen Oberfläche sich die Konturen der Routine eingegraben hatten. Er wachte immer zur gleichen Zeit auf, jeden Tag.
Wie er es auch schon in den letzten fünf Jahrhunderten getan hatte.
Steif schwang er die Beine von der Pritsche und erhob sich. Er ging in Gedanken die vor ihm liegende Schicht durch. Heute sollte er ein Gespräch mit dem Planer Milpitas führen – schon wieder ein Gespräch, dachte er – und er spürte, wie seine Stimmung sank.
Er ging zum Fenster und ließ die Arme kreisen, um die Durchblutung des
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