Xeelee 3: Ring
Darstellungen vergangener, schöner Panoramen überzogen: Er erinnerte sich an virtuelle Sonnen und Monde, die über einen virtuellen Himmel zogen, Kinder, die auf den Straßen umherliefen.
Das hatte ein Gefühl des Raums vermittelt – von Unendlichkeit. Die Virtuellprojektionen hatten die Macht, diese Kastenwelt riesig und grenzenlos erscheinen zu lassen.
Aber Suprahet hatte die Virtuellprojektoren einen nach dem anderen deaktiviert und die tote Realität der Welt freigelegt, die sich hinter der Illusion befand. Heute schien niemand mehr zu wissen, wo die Virtuellprojektoren waren oder wie man sich Zugang zu ihnen verschaffen konnte, falls sie überhaupt noch funktionierten.
Zur gleichen Zeit hatte Suprahet das Gebären von Kindern zuerst mißbilligt und dann ganz abgeschafft. Morrow war eines der letzten natürlich geborenen Kinder gewesen.
Virtuelle Dioramen – und die Stimmen von Kindern – waren laut Suprahet nicht mehr erforderlich.
Es gab keine jungen Leute mehr, und die Menschen wurden alt. Es gab weder Tag noch Nacht, nur das ständige, stahlgraue, indirekte Licht – von der Metallhülle reflektiert – vermittelte den Eindruck einer permanenten Dämmerung. Freizeitaktivitäten – Theater, Studiengruppen, Spielgruppen – wurden nicht mehr gepflegt. Die Welt wurde nur noch durch den endlosen Trott der Arbeit strukturiert.
Maloche, und natürlich das Studium der Worte der Gründer von Suprahet.
Milpitas wandte Morrow sein breites, ziemlich grobes Gesicht zu. »Suprahets alleiniger Imperativ ist das Überleben der Spezies – physisch durch unsere Gene und kulturell durch die uns innewohnenden Meme – bis in die weit entfernte Zukunft.« Er deutete auf den eisernen Himmel. »Alle unsere Handlungen werden von dieser Logik motiviert, Morrow. Nach allem, was wir wissen, sind wir die einzigen überlebenden Menschen im Universum. Und deshalb müssen wir die Verwendung unserer Ressourcen optimieren.
Im Moment läuft es gut für uns. Unsere Bevölkerung ist gut eingestellt; wir benötigen keine neuen Generationen – zumindest solange nicht, bis sich unsere Ressourcenlage ändert.«
Aber, dachte Morrow intensiv, aber die Bevölkerung ist doch nicht stabil. Jedes Jahr starben Menschen – durch Unfälle oder obskure AS-Fehler. Mithin verringerte sich die Bevölkerung also jährlich.
Im Laufe der Jahrhunderte hatte er den kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang miterlebt, den langsamen Rückzug von den unteren Decks. Morrow war sich sicher, daß zum Zeitpunkt seiner Geburt die Lebenskuppel bis hinunter zu Deck Acht besiedelt gewesen war – und es hieß, daß sich darunter noch weitere sieben oder acht Decks befanden. Heute waren nur Deck Zwei und Drei noch bevölkert.
Konnte es einen Punkt geben, überlegte er, bei dessen Unterschreiten die Rasse sich nicht mehr regenerieren konnte, selbst wenn die gegenwärtige Sterilisation rückgängig gemacht werden würde?
Welche Möglichkeiten hätte Suprahet dann?
Milpitas setzte sich wieder. Als er erneut zu sprechen begann, schien der Planer sich um Verbindlichkeit zu bemühen. »Morrow, du darfst dich nicht selbst – und dein Umfeld – mit Fragen quälen, auf die es keine Antwort geben kann. Du weißt, zumindest im Grundsatz, warum unsere Welt so ist, wie sie ist. Genügt das denn nicht? Ist es wirklich erforderlich, daß du jedes Detail verstehst?«
Aber wenn ich nichts verstehe, dachte Morrow düster, dann könnt ihr mich kontrollieren. Willkürlich. Und das kann ich nur schwer akzeptieren.
Milpitas legte die Finger aufeinander. »Da gibt es noch eine andere Dimension, die du berücksichtigen mußt.« Sein Ton war jetzt rauher. »Sage mir, wie du die inneren Widersprüche des Dualismus Mem-Gen beurteilst.«
Morrow blickte nur finster drein und sagte nichts.
Milpitas lächelte süffisant. »Du verstehst die Frage nicht, stimmt’s? Kannst du überhaupt lesen?«
»Ja, ich kann lesen«, bestätigte Morrow patzig. »Ich mußte es mir zwar selbst beibringen, aber… ja, ich kann lesen.«
Milpitas runzelte die Stirn. »Aber du mußt doch gar nicht lesen können. Die meisten Leute können auch ohne das auskommen. Es ist ein Luxus, Morrow; etwas Unnötiges.
Wir alle müssen unsere Beschränkungen akzeptieren, Morrow; du mußt einfach akzeptieren, daß es Leute gibt, die es besser wissen als du.«
Morrow rüstete sich innerlich. Jetzt kommt’s. Die Strafen waren zwar alle nicht übermäßig hart, aber er betrachtete jede Unterbrechung seiner täglichen
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