Xeelee 3: Ring
wobei ihr schauriges, fast choralartiges Geheul an- und abschwoll.
Er ließ die Bogensehne los.
Der Pfeil zischte in die Luft, und die an ihm befestigte Schnur rollte sich mit einem kaum spürbaren Luftzug vor Pfeilmachers Gesicht ab.
Wenige Meter entfernt hörte er ein Rascheln in den Blättern, als der Pfeil zurückkam. Aber die Schnur fiel nicht mit herunter; Pfeilmacher hatte es geschafft, sie in einem der oberen Äste des Kapok zu verankern.
Er hängte sich den Bogen um die Schulter, ergriff den Köcher und kletterte über die Äste, wobei seine bloßen Füße auf der moosbesetzten Rinde guten Halt fanden. Er fand den Pfeil in einem Mooshügel am Astansatz eines Banyan-Baums. Mit schnellen geschickten Handgriffen löste Pfeilmacher ein Seil von der Hüfte und befestigte es an der Schnur; das Seil – das seine Tochter aus Lianenfasern geflochten hatte – war so dick wie sein Finger, und weil Pfeilmacher im Dunklen arbeiten mußte, hatte er Probleme mit dem Verknoten der beiden Leinen.
Als sie fest verknüpft waren, begann Pfeilmacher an der Schnur zu ziehen. Das Seil schabte durch Laubschichten aufwärts. Bald hatte Pfeilmacher es über den Ast gezogen. Er zog am Seil; es gab zwar etwas nach, als der Ast des Kapok sich bog, konnte sein Gewicht aber trotzdem gut aushalten.
Er löste die Schnur und wickelte sie sich um die Hüfte. Er befestigte zwei metallene Handgriffe am Seil. An jedem Griff war ein geflochtener Steigbügel befestigt, in die Pfeilmacher die Füße steckte. Er verlagerte sein Gewicht auf einen Steigbügel und bewegte den anderen ungefähr einen Meter nach oben. Dann erhob er sich und schob den anderen Griff an dem ersten vorbei. Auf diese Art kletterte Pfeilmacher behende durch die letzten Laubschichten. Die Griffe glitten leicht nach oben, und Ratschen verhinderten, daß sie wieder zurückrutschten. Einer der Griffe schien etwas locker zu sein – er vermutete, daß er verschlissen war –, aber noch bot er genug Sicherheit.
Als er durch Schichten von Grünzeug dem Himmel entgegenkletterte, paßte Pfeilmacher sich dem vertrauten Rhythmus der einfachen Übung an und genoß das glühende Gefühl in seinen Gelenken, während die Muskeln arbeiteten. Der schwere Hüftgürtel mit den geflochtenen Taschen für Werkzeug und Proviant schlug sachte gegen den Körper; den über die Schulter gehängten Bogen und Köcher spürte er kaum.
Die Handgriffe, Seile und Steigbügel gehörten Pfeilmacher bereits seit zwanzig Jahren. Sie zählten zu seinen wertvollsten Besitztümern: Sein Leben hing von ihnen ab, und sie waren fast unersetzlich. Die Leute des Waldes konnten wohl Seile und Bogen und Gesichtsfarben herstellen, aber sie verfügten einfach nicht über die Rohstoffe zur Fertigung von Griffen und Steigbügeln – oder Messern, Brillen und anderen notwendigen Alltagsgegenständen. Sogar der alte Uvarov –, der in seinem Stuhl auf dem Waldboden herumrollte, mußte das eingestehen.
Um die Kletterausrüstung zu erhalten, hatte der junge Pfeilmacher mit den Unterleuten gehandelt.
Er hatte viele Tage mit dem Sammeln von Erzeugnissen des Waldes zugebracht: Früchte, Vogelfleisch, Schalen mit Copaifera-Saft. Er stapelte seine Waren in einer der großen Schleusen, die in den Waldboden eingelassen waren. Dann teilte er den Unterleuten seine Wünsche mittels einer spezifischen Sequenz von Kerben mit, die er mit dem Messer in die narbige Oberfläche der Schleuse geritzt hatte.
Als er am nächsten Tag zu der Schleuse zurückkehrte, lag dort die angeforderte Kletterausrüstung, neu glänzend und ordentlich ausgebreitet. Von den Erzeugnissen des Waldes war nichts mehr zu sehen.
Das Überleben der Waldbewohner hing von den Artefakten der Unterleute ab. In vergleichbarer Weise, so hatte sich Pfeilmacher oft überlegt, waren die Unterleute ihrerseits vielleicht auf die Produkte des Waldes angewiesen. Vielleicht war es dunkel dort unten, unterhalb des Waldes, ohne Licht; vielleicht konnten die Menschen keine eigenen Nahrungsmittel produzieren. Pfeilmacher schauderte; er hatte plötzlich eine Vision von einer Rasse nachtaktiver, großäugiger Kreaturen, die wie Loris über die leblosen, in ewiger Dunkelheit liegenden Ebenen unter seinen Füßen schlichen.
Er erreichte das Ende des Seils. Der Ankerast war nur wenige Handbreit stark, aber er hielt. Das Nest eines Baumseglers – eine mit Speichel verklebte Kugel aus Rinde und Federn – hing an der Seite des Astes und beherbergte ein einziges Ei.
Er suchte sich
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