Xeelee 3: Ring
sich, der in etwa Morrows Höhe hatte und sich vor den Waldmenschen auftürmte.
Im Innern des Schachts war es stockfinster.
Pfeilmacher steckte den Kopf in den Schacht und inspizierte ihn. »Es befinden sich Sprossen an der Innenwand. Es ist wie eine Leiter. Gut. Das erleichtert das Klettern. Und…«
Seilspinnerin berührte seinen Arm. »Was ist mit Uvarov?«
Pfeilmacher wandte sich dem alten Doktor zu, wobei er das Gesicht in Sorgenfalten legte.
Mit Unbehagen beäugte Morrow den klaffenden Schacht. »Wir können diesen Rollstuhl nie dort runterschaffen, nicht über eine Leiter…«
»Dann tragt mich.« Uvarovs zerstörtes, verschrumpeltes Gesicht lag im tiefen Schatten, als er ihnen den Kopf zuwandte. »Vergeßt den Stuhl, verdammt. Tragt mich!«
Morrow hörte Schritte, die von den unverkleideten Wänden des Decks widerhallten. »Wir haben keine Zeit«, sagte er zu Pfeilmacher. »Wir müssen ihn zurücklassen. Wir können nicht…«
Pfeilmacher schaute zu ihm auf, wobei sein Gesicht unter der schrillen Schminke einen angespannten und verächtlichen Ausdruck zeigte. Dann wandte er sich ab. »Spinnerin, reich mir eine Hand. Nimm seine Decke weg.«
Das Mädchen ergriff einen Zipfel der schwarzen Decke und zog sie vorsichtig zurück. Uvarovs Körper kam zum Vorschein: Ausgemergelt, knochig und in eine silbrige Kombi gehüllt, durch die Morrow deutlich die hervortretenden Rippen- und Beckenknochen erkennen konnte. Unter Uvarovs Anzug beulte sich etwas aus: Vielleicht Kolostomie-Beutel oder ähnliche medizinische Hilfen. Obwohl er so groß wie Morrow sein mußte, schien Uvarovs Körper nicht schwerer als der eines Kindes zu sein. Eine Hand lag in Uvarovs Schoß und zitterte wie ein Pendel mit einer Periode von vielleicht einer Sekunde, und die andere lag um einen einfachen Joystick, der – wie Morrow vermutete – den Stuhl steuerte.
Pfeilmacher ergriff Uvarovs Handgelenk und führte die Hand vorsichtig vom Steuerknüppel weg; die Hand blieb verkrümmt wie eine Klaue. Dann beugte sich Pfeilmacher nach vorn, hob Uvarov sachte aus dem Stuhl und setzte ihn sich auf die Schulter. Als Pfeilmacher wieder aufrecht stand, baumelten Uvarovs in Slippern steckenden Füße auf dem Boden, und seine Knie waren fast angezogen.
Uvarov ließ das alles geduldig über sich ergehen, ohne Kommentar oder Beschwerde; Morrow, der sie beobachtete, bekam den Eindruck, daß Pfeilmacher an diesen Umgang mit Uvarov gewöhnt war – vielleicht diente er dem alten Doktor als eine Art Krankenpfleger.
Als er den zähen kleinen Mann musterte, der unter seiner baumelnden menschlichen Last fast völlig verschwand, durchfuhr Morrow ein stechendes Gefühl der Scham.
Seilspinnerin nahm Uvarovs Decke an sich und drapierte sie sich um die Schultern. »Laßt uns gehen«, meinte sie energisch.
»Du gehst voran«, instruierte Pfeilmacher sie.
Seilspinnerin hielt sich am Rahmen der offenen Luke fest und schwang sich gewandt in den Schacht. Sie drehte sich um, packte die Sprosse unter dem Rahmen des Schotts und verschwand nach unten.
»Jetzt du, Morrow«, zischte Pfeilmacher.
Morrow legte die verschwitzten Hände auf den Schottrahmen. Verdammt, er war fünfhundert Jahre älter als Seilspinnerin. Und selbst mit fünfzehn hatte er keine körperliche Gewandtheit besessen…
»Beweg dich!«
Er hob ein Bein und schob es über die Kante des Schleusenschotts. Die Kante grub sich in seine Weichteile. Er versuchte, auch das zweite Bein nachzuziehen – und verlor dabei fast den Halt. Mit beiden Händen klammerte er sich an den Rahmen, wobei er das Gefühl hatte, daß seine ganze Haut mit kaltem Schweiß überzogen war.
Er versuchte es erneut, diesmal langsamer, und jetzt gelang es ihm, beide Beine in den Schacht zu ziehen. Einen Augenblick lang saß er da und ließ die Füße über einem Abgrund baumeln, dessen Grund in der Dunkelheit verborgen lag.
Wenn sich der Schacht wirklich bis zur Basis der Lebenskuppel hinunterzog, dann hätte er eine Meile freien Falls unter sich.
Er erwog kurz, den Schacht wieder zu verlassen. Konnte er das wirklich verkraften? Eventuell konnte er sich ja auch ergeben… Aber seltsamerweise war es der Gedanke an die dann wohl folgende Verachtung in Pfeilmachers und Seilspinnerins Gesicht, die diese Option hinfällig werden ließ.
Vorsichtig streckte er den rechten Fuß aus. Die erste Sprosse schien ziemlich weit unten zu liegen, aber schließlich berührte er sie mit dem Absatz. Sie vermittelte einen massiven und
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