Xeelee 5: Vakuum-Diagramme
dieser Liste formuliert man dann einen Ausdruck, der nicht auf der Liste steht…«
»Schon gut.« Es dauerte eine Weile, bis Kapur sich der furchtbaren Weiterungen bewusst geworden war. Ein Loch in der Mathematik – in der abstraktesten aller menschlichen Erfindungen! Alle Gewissheiten des Universums schienen plötzlich Makulatur zu werden.
Was für Kreaturen mussten diese Schneemänner gewesen sein, dass sie ihre Philosophie um solch ein schreckliches nihilistisches Theorem zentriert hatten?
Kapur schloss die Augen – schaltete sie streng genommen ab. Der Garten aus gefrorenen Daten-Blumen verwandelte sich in kaltes totes Eisen.
* * *
Kapur und Mace unternahmen noch drei Vorstöße zur eisernen Hülle der Schneeflocke. Mace zeigte ihm noch mehr Wälder aus rauschenden Daten, die die Menschen im Lauf der Zeit kartiert hatten. Kapur entdeckte auch ›Tiger‹, die durch diese Daten-Dschungel streiften; große Tiere aus Weisheit und Verstehen, über deren Natur die Menschen nicht einmal zu spekulieren vermochten.
Kapur verbrachte ein paar Stunden seiner wertvollen Zeit damit, bewegungslos im Kälte-Anzug herumzuhängen, der kaum wärmer war als der Nachhall des Urknalls. Er fühlte sich alt und nutzlos. Assimilation – unblutige Assimilation – war eine Frage der Psychologie, der Definition von Zielen. Das Ziel der Menschheit bestand darin, sich zu erheben und zu wachsen, um schließlich gegen die Xeelee anzutreten. Falls es Kapur gelang, die Ziele der Schneemänner zu ermitteln, vermochten die Menschen diese Ziele vielleicht für ihre Belange umzumünzen. Falls nicht, waren die Flocke und die Männer wertlos.
Doch wie sollte Kapur, unerfahren wie er war, an die Träume der uralten Individuen rühren, die in dieser Daten-Skulptur eingefroren waren?
Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass ein Versagen keine Schande wäre und dass er ohne Gesichtsverlust nach Hause und an seinen Arbeitsplatz zurückkehren könnte.
Kapur war auf der Hut, sich Mace gegenüber eine Blöße zu geben, indem er diese Gefühle thematisierte. Je länger sie im muffigen Käfig des Beiboots eingesperrt waren, desto deutlicher spürte er jedoch Maces triumphierende Stimmung. Kapur erkannte, dass der intelligente Marinemensch von der Umgebung in den Bann gezogen wurde. Er wusste aber auch, dass Assimilation ein Irrweg war, ein Zugeständnis an liberale Affekte, bevor die Marine von der Leine gelassen wurde.
Er hat wahrscheinlich Recht, sagte Kapur sich.
Einmal war es Maces arrogante Attitüde, zum andern die Empörung über die Verwüstungen, die die Spline mit ihren Gravitationswellen-Planetenhämmern an der Schneeflocke anrichten würden, die ihn dazu bewogen, bis zum letzten Moment auszuharren. Den Misserfolg würde er verkraften, sagte er sich, aber vor Mace wollte er nicht als Versager dastehen.
Er hatte eine neue Idee.
»Ich hätte eine Frage«, wandte er sich an Mace. »Wie viele Daten charakterisieren einen Menschen?«
Mace machte den Mund auf und wieder zu.
Kapur ließ nicht locker. »Wenn meine Gedanken irgendwie transkribiert würden, Tag und Nacht, ein Leben lang – wie viele Bits würde das wohl ergeben?«
Mace lächelte und schloss die Augen. »Na gut, Polizist. Ich mache dein Spielchen mit. Sagen wir, du produzierst hunderttausend diskrete Gedanken am Tag. Jedes Konzept hat wie viele – hundert Bits?
Legen wir fünfzig aktive Lebensjahre als Erwachsener zugrunde, zwischen Jugend und Greisenalter. Per Saldo ergibt das… äh… zweimal zehn hoch elf Bits.« Mace schürzte die Lippen, öffnete die Augen und musterte Kapur kurz. »Interessant. Dann steckt also das Äquivalent von ungefähr zehn hoch neunundvierzig menschlichen Individuen in der Flocke…«
Kapur nickte. »Isoliere einen von ihnen mit deinen Sensoren. Glaubst du, du schaffst das? Such irgendeine Insel aus Bits. Ich will gar nicht wissen, was im Innern vorgeht; richte es so ein, dass ich nur die Inputs und Outputs sehe.«
Mace rieb sich das Kinn. »Du willst mit einem Schneemann sprechen?«
»Lass die Scherze«, sagte Kapur geduldig.
»Und worüber willst du dich unterhalten?«
Kapur ritt auf einer Woge der Intuition. »Über Gödels Theorem«, sagte er wie aus der Pistole geschossen.
Mace beugte sich vor und wollte schon einen spöttischen Spruch absondern – dann hielt er inne. »Nun, wieso nicht?«, sagte er schließlich. »Vielleicht erbringst du einen Beweis für das Theorem. Das wäre doch recht interessant.«
Kapur wartete auf Maces
Weitere Kostenlose Bücher