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Xenozid

Xenozid

Titel: Xenozid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Card Orson Scott
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Mathematik und Musik ausgebildet. Und jede Woche begab sie sich zu ihrem Vater und verbrachte einen halben Tag mit ihm, zeigte ihm alles, was sie gelernt hatte, und lauschte, was er dazu sagte. Sein Lob ließ sie den ganzen Rückweg zu ihrem Zimmer tanzen; sein mildester Tadel brachte sie dazu, stundenlang die Linien von Holzmaserungen in ihrem Klassenzimmer mit den Blicken zu verfolgen, bis sie sich wieder würdig fühlte, ihre Studien fortzusetzen.
    Ein anderer Teil ihrer Ausbildung war völlig privat. Wie sie selbst gesehen hatte, war Vater so stark, daß er seinen Gehorsam an die Götter zurückstellen konnte. Sie wußte, wenn die Götter ein Reinigungsritual forderten, war der Drang, das Bedürfnis, ihnen zu gehorchen, so stark, daß es nicht verweigert werden konnte. Und doch verweigerte Vater es irgendwie – zumindest lange genug, daß er seine Rituale immer ohne Zeugen durchführen konnte. Qing-jao sehnte sich ebenfalls nach solch einer Kraft, und so brachte sie sich die nötige Disziplin bei, das Ritual zu verzögern. Wenn die Götter sie sich besonders unwürdig fühlen ließen und ihre Blicke nach Holzmaserungen zu suchen anfingen, wartete sie ab und versuchte sich darauf zu konzentrieren, was in diesem Augenblick vor sich ging, um den Gehorsam so weit wie möglich hinauszuschieben.
    Zuerst war es schon ein Triumph, wenn es ihr gelang, ihre Reinigung eine volle Minute lang zu verzögern – und als ihr Widerstand brach, bestraften die Götter sie dafür, das Ritual anstrengender und schwieriger als normal gemacht zu haben. Aber sie wollte einfach nicht aufgeben. Sie war Han Fei-tzus Tochter. Und im Verlauf von Jahren lernte sie, was auch ihr Vater gelernt hatte: daß man mit dem Drang leben, ihn oftmals stundenlang bewahren konnte, wie ein helles Feuer, das von durchsichtiger Jade umschlossen wird, ein gefährliches, schreckliches Feuer von den Göttern, das in ihrem Herzen brannte.
    Dann, wenn sie allein war, konnte sie das Jadekästchen öffnen und das Feuer herauslassen, nicht mit einer einzigen, schrecklichen Eruption, sondern langsam und allmählich. Es erfüllte sie mit Licht, während sie den Kopf senkte und die Linien auf dem Boden untersuchte, oder während sie sich über das heilige Becken ihrer geheiligten Waschungen beugte und still ihre Hände mit Bimsstein, Lauge und Aloe abrieb.
    So wandelte sie die tobenden Stimmen der Götter in ein Beten um. Nur in seltenen Augenblicken plötzlicher Qualen verlor sie die Kontrolle und warf sich vor einem Lehrer oder Besucher auf den Boden. Sie akzeptierte diese Erniedrigungen als die Art der Götter, sie daran zu erinnern, daß ihre Macht über sie, Qing-jao, absolut war, daß sie ihr die übliche Selbstbeherrschung nur zu ihrem eigenen Amüsement gestatteten. Sie war mit dieser alles andere als perfekten Disziplin zufrieden. Schließlich wäre es anmaßend gewesen, eine so perfekte Selbstbeherrschung wie ihr Vater erreichen zu wollen. Seine außergewöhnliche Würde entstammte der Tatsache, daß die Götter ihn ehrten und daher keine öffentlichen Erniedrigungen von ihm verlangten; sie hatte noch nichts getan, um solch eine Ehre zu verdienen.
    Und schließlich beinhaltete ihr Unterricht, einen Tag pro Woche dem gewöhnlichen Volk bei seiner rechtschaffenen Arbeit zu helfen. Rechtschaffene Arbeit war natürlich nicht die Arbeit, die das gewöhnliche Volk jeden Tag in den Büros und Fabriken verrichtete. Mit rechtschaffener Arbeit war die Arbeit auf den Reisfeldern gemeint. Jeder Mann und jede Frau auf Weg mußte diese Arbeit leisten, mußte in knietiefem Wasser waten und sich bücken, um den Reis zu pflanzen und zu ernten – oder hätte die Staatsbürgerschaft verloren. »So ehren wir unsere Vorfahren«, hatte Vater ihr erklärt, als sie klein war. »Wir zeigen ihnen, daß sich keiner von uns jemals zu gut sein wird, ihre Arbeit zu verrichten.« Der Reis, der aufgrund der rechtschaffenen Arbeit wuchs, wurde als heilig betrachtet; er wurde in den Tempeln dargeboten und an Feiertagen gegessen, und er wurde in kleinen Schüsseln den Göttern des Haushalts zum Opfer gereicht.
    Einmal, als Qing-jao zwölf Jahre alt war, war es schrecklich heiß, und sie wollte ihre Arbeit an einem Forschungsprojekt abschließen. »Ich möchte heute nicht auf die Reisfelder gehen«, sagte sie zu ihrem Lehrer. »Was ist hier tue, ist viel wichtiger.«
    Der Lehrer verbeugte sich und ging, doch bald kam Vater in ihr Zimmer. Er hielt ein schweres Schwert in der Hand, und sie

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