Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
zurückzugehen war natürlich die sicherste und naheliegendste Möglichkeit, aber ich wusste, dass er in meiner Nähe bleiben würde, bis Ferde gefasst war. Das brachte mich zu der Frage, wer Ferdes nächstes Opfer sein könnte. Er hatte im Bergfried gearbeitet, wo es eine ganze Reihe von jungen Zauberinnen gab, die gerade lernten, ihre magischen Kräfte zu kontrollieren. Bestimmt hatte er die Zeit bis zum Vollmond in der kommenden Nacht genutzt, um seine Vorbereitungen zu treffen. Zwar konnten ihn die Meister-Magier mithilfe ihrer Zauberkraft nicht ausfindig machen, aber vielleicht gelang es ihnen, Kontakt zu dem Mädchen herzustellen, das in seiner Gewalt war. Nur – wie konnten sie es finden?
Kaum hatten die Magier das Tor des Bergfrieds passiert, stiegen sie ab, übergaben den Wächtern die Pferde und machten sich auf den Weg zum Verwaltungsgebäude. Ich wollte ihnen folgen, doch am Fuß der Treppe hielt Roze mich zurück.
„Du gehst sofort in deine Wohnung und bleibst dort“, befahl sie. „Mit dir beschäftigen wir uns später.“
Ich verspürte nicht die geringste Lust, ihren Anordnungen zu gehorchen, aber mir war klar, dass sie mir den Eintritt in den Versammlungsraum verwehren würden. Deshalb packte ich Bain am Arm, ehe er die Treppen hinaufsteigen konnte.
„Der Mörder hat vermutlich ein Mädchen aus dem ersten Schuljahr dazu gebracht, mit ihm zu gehen“, sagte ich. „Jeder von Euch sollte eines der Wohngebäude durchsuchen. So werdet ihr schnell herausfinden, wer vermisst wird, und könnt versuchen, mit ihr in Verbindung zu treten.“
„Ausgezeichnet“, lobte Bain. „Jetzt ruh dich erst einmal aus, mein Kind. Und mach dir keine Sorgen. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um den Mörder zu finden.“
Ich nickte. Plötzlich fühlte ich mich ungeheuer erschöpft, und die Müdigkeit lastete auf mir wie eine Wagenladung Steine. Bain hatte recht, ich musste mich ausruhen. Trotzdem machte ich einen Umweg über den Gästeflügel, ehe ich in meine Wohnung ging.
Mein Vater öffnete die Tür. Mit seiner Umarmung erdrückte er mich fast. „Geht es dir gut? Hat meine Tablette gewirkt?“
„Wie ein Zauberspruch.“ Ich küsste ihn auf die Wange. „Du hast mir das Leben gerettet.“
Er legte den Kopf schräg. „Ich habe noch ein paar mehr für dich gemacht … für alle Fälle.“
Dankbar lächelte ich ihn an. Dann schaute ich über seine Schulter und fragte: „Wo ist Mutter?“
„Auf ihrer Lieblingseiche bei der Weide. Es ging ihr so gut, bis …“ Er lächelte traurig.
„Ich weiß. Ich werde sie schon finden.“
Ich stand am Fuß der Eiche und hatte das Gefühl, dass das Schicksal aller, die mir etwas bedeuteten, auf meinen Schultern lastete. „Mutter?“, rief ich.
„Yelena. Komm herauf. Hier oben ist es sicher!“
Nirgendwo ist es sicher, dachte ich. Die Ereignisse der vergangenen Tage begannen, ihren Tribut zu fordern. Die Probleme überwältigten mich; es war einfach zu viel für mich geworden. Meine Begegnung mit Alea hatte mir die Grenzen meiner Möglichkeiten aufgezeigt. Mein Selbstbewusstsein hatte einen empfindlichen Dämpfer erlitten. Offenbar war ich doch nicht in der Lage, eine solche Situation zu meistern, obwohl ich fest daran geglaubt hatte. Glücklicherweise hatte Alea bei mir nicht nach Waffen gesucht, denn sonst läge ich jetzt irgendwo da draußen in meinem eigenen Blut.
„Komm herunter. Ich brauche dich!“, rief ich. Dann sank ich zu Boden, legte die Knie an meine Brust und umklammerte meine Beine, während mir die Tränen über die Wangen liefen.
Es raschelte und knackte in den Zweigen und Blättern, und dann stand meine Mutter neben mir. Auf einmal war ich wieder das sechsjährige Mädchen, flog in ihre Arme und schluchzte hemmungslos. Sie tröstete mich, brachte mich in mein Zimmer, gab mir ein Taschentuch und ein Glas Wasser. Als ich im Bett lag, zog sie die Decke hoch und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
Sie wandte sich zum Gehen, doch ich ergriff ihre Hand. „Bitte bleib bei mir.“
Lächelnd nahm meine Mutter ihren Umhang ab und legte sich neben mich. In ihren Armen schlief ich ein.
Am nächsten Morgen brachte sie mir das Frühstück ans Bett. Ich wollte nicht, dass sie mich so verwöhnte, doch sie wehrte ab. „Ich muss vierzehn Jahre Bemuttern nachholen. Lass mir die Freude.“
Obwohl sie sehr viel auf das Tablett gehäuft hatte, aß ich jeden Krümel auf und leerte den Tee bis zum letzten Tropfen. „Diese süßen Kuchen mag ich am
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