Yelena und der Mörder von Sitia - Snyder, M: Yelena und der Mörder von Sitia
und auszuloten.“
Bei dem Wort zuckte ich zusammen. „Glaubst du wirklich, dass ich eine bin?“
„Ich habe es vermutet, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Eine instinktive Abwehrhaltung – genau wie dein Zusammenzucken jetzt gerade. Außerdem habe ich das Gefühl, ein paar Ratschläge gebrauchen zu können. Mir ist klar geworden, dass es durchaus noch andere Lebensweisen und Einstellungen gibt außer denen, die wir in Sitia pflegen. Warum sollte man nicht von allem das Beste nehmen? Vielleicht könntest du mir in dieser Beziehung ein wenig behilflich sein?“
„Du meinst, sich Hals über Kopf in eine gefährliche Situation stürzen und auf das Beste hoffen? Bist du sicher, dass du das lernen möchtest?“
„Solange du mehr darüber herausfinden möchtest, wie es ist, eine Seelenfinderin zu sein. Verstößt das wirklich gegen den Ehrenkodex? Vielleicht muss er ja überarbeitet werden. Und könnte man dich schon als Meisterin bezeichnen, oder musst du erst die Meisterprüfung ablegen?“
„Die Meisterprüfung? Ich habe schreckliche Dinge darüber gehört.“ Meine Kehle war wie zugeschnürt, und das Schlucken fiel mir schwer.
„Das meiste davon sind Gerüchte, um die Schüler abzuschrecken. Auf diese Weise soll erreicht werden, dass nur diejenigen, die vollkommen von ihren Fähigkeiten überzeugt sind, den Mut aufbringen, sich der Prüfung zu unterziehen.“
„Und wenn sie nicht stark genug sind?“
„Dann fallen sie eben durch, aber auf diese Weise lernen sie wenigstens die Grenzen ihrer Macht kennen. Das ist immer noch besser, als später eine unangenehme Überraschung zu erleben.“
Irys schwieg. Ich spürte, wie sie in meine Gedanken eindrang. Ist das eine Abmachung? , wollte sie wissen.
Ich denke darüber nach. Es ist viel geschehen.
Das stimmt , pflichtete sie mir bei. Lass es mich wissen, wenn du so weit bist. Damit ließ Irys mich allein.
Ich schloss die Tür und begann, über die Möglichkeiten nachzudenken, die sich mir boten. Einerseits konnte ich meine Fähigkeiten ausloten, andererseits bestand die Gefahr, als Seelenfinderin verachtet zu werden. Allmählich kam ich zu dem Schluss, dass das Leben in Ixia einfacher gewesen war, obwohl ich täglich damit hatte rechnen müssen, Gift im Essen des Commanders zu finden. Nach meinem Botengang, wie Valek meinen Auftrag so lässig bezeichnet hatte, konnte ich wählen, wie ich mein Leben weiterführen wollte. Wie schön, Alternativen zu haben. Wieder einmal.
Bei einem letzten Rundgang durch die Wohnung schaute ich nach, ob ich etwas vergessen hatte. Die Valmur-Statue für Valek hatte ich eingepackt, ebenso die restlichen Münzen aus Sitia, meine Uniform aus dem Norden und Kleidung zum Wechseln. Meine Schuluniformen und einige von Nuttys Hosenröcken ließ ich im Schrank hängen. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Hefte, und im Zimmer lag ein Duft von Apfel und Lavendel. Ein Gefühl von Wehmut ließ mein Herz schwer werden. Unvermittelt wurde mir klar, dass die Zimmer im Bergfried mein Zuhause geworden waren, obwohl ich mich zunächst überhaupt nicht hatte heimisch fühlen wollen.
Schwer lastete der Rucksack auf meinen Schultern, als ich die Wohnung verließ. Ein letztes Mal besuchte ich meine Eltern im Gästeflügel des Bergfrieds. Esau rumorte in der Küche herum, und Perl hatte einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Immer wieder fuhr sie sich mit der Hand an den Hals – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich über etwas aufgeregt hatte. Sie überredete mich, zum Tee zu bleiben, während sie mir den Rucksack abnahm, und ließ nicht locker, bis ich in einem der rosafarbenen Sessel versunken war.
Sie rief Esau zu, er möge einen weiteren Becher mitbringen, und setzte sich neben mich. Ich wurde den Eindruck nicht los, dass sie mich am liebsten festgebunden hätte, damit ich auch ja nicht ging. Esau kam mit dem Teetablett herein. Sofort erhob sie sich und reichte mir einen der dampfenden Becher.
Erst als ich den Becher in der Hand hatte, entspannte Perl sich ein wenig. Offenbar glaubte sie, dass ich mit dem Tee in der Hand nicht aufspringen und Hals über Kopf weglaufen konnte. „Du gehst fort, nicht wahr?“, fragte sie dann. Ehe ich etwas sagen konnte, schüttelte sie den Kopf. „Du würdest es mir ohnehin nicht sagen. Du behandelst mich wie eine Mimose. Aber du solltest wissen, dass die empfindlichsten Blumen oft am intensivsten duften, wenn sie zerrieben werden.“ Sie ließ mich nicht aus den Augen.
„Ich habe
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