Yoga-Anatomie
weiter zu den nächsten Knochen und Gelenken geleitet und so fort – bis hin zur Wirbelsäule und zu den Randbereichen. Selbst wenn wir passiv auf dem Boden liegen und jemand anderes uns bewegt, setzt sich auch diese Bewegung irgendwie im Gewebe fort.
Da sich Bewegung auf diese Weise im Körper fortsetzt, ist es praktisch nicht umsetzbar, sich mit dem Bewegungsumfang eines einzelnen Gelenks zu befassen. Während es erfahrenen Manualtherapeuten möglich ist, ein einzelnes Gelenk tatsächlich zu isolieren und zu untersuchen, wie viel Bewegung in den Knochen und im Weichgewebe machbar ist, müssen wir bei jeder willkürlichen Bewegung die restlichen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers berücksichtigen.
Beobachtet man einen Menschen in seiner Gesamtheit, wenn er sich bewegt, kann man erkennen, wie sich die Bewegung, sobald sie in einem Gelenk gestoppt wird, zum nächsten weitergeleitet wird. Manchmal werden weniger bewegliche Gelenke übersprungen oder die Bewegung ist so gering, dass man sie kaum wahrnimmt, aber sie setzt sich immer irgendwo fort.
Anstatt sich mit dem Bewegungsumfang einzelner Gelenke zu befassen, muss man sich das ganze Bewegungsmuster im Skelettsystem ansehen: Betrachtet man es dort, wo viel Bewegung ist, erscheint es einfach, betrachtet man es dort, wo sich wenig Bewegung ereignet, erscheint es anspruchsvoller. Dann stellt man sich die Frage, wo der Ausgleich stattfindet: Wenn jemand in einem Gelenk an die Grenze des Möglichen gestoßen ist, ist dann im nächsten Gelenk noch Bewegung möglich? Können einige Gelenke die gesamte Bewegungsarbeit leisten, sodass sie hypermobil erscheinen? Bewegen sich manche Gelenke überhaupt nicht, so als wären sie gar nicht da? Es kann auch eine Frage der Aufmerksamkeit sein: Egal ob jemand sehr flexibel oder sehr steif ist, besitzt jeder Körper Zonen, die viel Aufmerksamkeit bekommen, und andere, die eher im Schatten bleiben.
Fazit
Das Gelingen eines Asanas (oder jeder anderen Bewegung) bemisst sich an der Qualität der im Körper vorherrschenden Ausgeglichenheit oder am intrinsischen Gleichgewicht, nicht am Bewegungsumfang eines einzelnen Gelenks. Diese Qualität im Skelettsystem wird gesteigert durch das Vorhandensein ausbalancierter Gelenkhöhlen in jedem Gelenk, die Verfügbarkeit von eindeutigen Bewegungsbahnen über Knochen und Gelenke hinweg und das Bewusstsein unserer individuellen Muster in der Gesamtheit unseres Körpersystems.
1 Auf die Vorstellung der ausbalancierten Gelenkhöhle stieß ich zum ersten Mal beim Body Mind Centering (BMC). Sie ist grundlegend für den Ansatz von BMC, Bewegungsmuster im Skelett- und Bändersystem zu verändern.
2 Wer mehr über diese Unterschiede erfahren möchte, sei auf das faszinierende Buch von Steven Vogel verwiesen: Cats’ Paws and Catapults: Mechanical Worlds of Nature and People (W. W. Norton & Company, 1998).
Wenn es die Aufgabe des Skelettsystems ist, in jeder Stellung, die die Gelenke zulassen, Belastungen und Kräfte über die Bänder an die Knochen zu übertragen, dann besteht die Aufgabe des Muskelsystems darin, die Knochen derart in Position zu bringen, dass sie ihrer Aufgabe nachkommen können. Muskeln erzeugen Bewegung, Gelenke ermöglichen Bewegung und das Bindegewebe überträgt Bewegung von Gewebe zu Gewebe. Knochen absorbieren Bewegung und leiten sie weiter und Nerven koordinieren diesen ganzen herrlichen Tanz.
Das Zusammenspiel der Muskeln ergibt eine Matrix aus Bewegungsmöglichkeiten. Diese Matrix steuert jede Gelenkaktion im Körper. Muskeln arbeiten nie isoliert und ein einzelner Muskel funktioniert nie ohne Unterstützung und Lenkung durch andere Muskeln. Jeder Muskel wirkt auf jeden anderen Muskel ein, egal ob sie nahe gelegen oder weit entfernt sind.
Früher wurden Muskeln in einem vereinfachten, eindimensionalen Muster dargestellt, das zu Missverständnissen führte wie:
• Muskeln arbeiten als eigenständige Einheiten.
• In jedem Körper erzeugt derselbe Muskel immer dieselbe Gelenkaktion.
• Je mehr Tonus ein Muskel hat, desto besser funktioniert er.
• Muskeln stehen immer in derselben Beziehung zueinander.
• Für jede Bewegung gibt es die richtige Kombination von Muskeln.
Um zu verstehen, warum diese Annahmen unzutreffend sind, ist es notwendig, sich mit der Anatomie der Muskeln befassen.
Grundlagen der Muskelanatomie
Was für gewöhnlich als funktionierender Muskel angesehen wird, ist in Wirklichkeit ein Organ, das aus mindestens vier verschiedenen Gewebearten
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