Yolo
nehmen, er kann weder das Mobbing verhindern noch mein Leben verändern!«
Christian übertüncht seine Ratlosigkeit mit einem Grinsen. Ohne jeden Übergang sagt er: »Ich habe für das Häuschen deines Vaters einen Käufer gefunden …«
»Wer sagt denn, dass ich es verkaufen will?«
»Nun, vermieten lässt sich diese Hütte so sicher nicht; da investierst du glatt mehr, als sie wert ist.«
»Das ist ja wohl mein Entscheid. Bist du deswegen gekommen?«
Mein aggressives Benehmen tut mir leid, noch ehe Christian sich verteidigen muss. Zudem sitzt er auf der Couch niedriger als ich, sichtlich unbequem. »Lass uns nach draußen gehen, auf der Terrasse scheint jetzt die Sonne.«
In der Sterbekammer hat mein Vater nach Tagen des völligen Verstummens plötzlich »Felizitas« geflüstert. Ich habe ihm die Lippen genässt, ihn gestreichelt: »Papa, ich bin hier, ganz nah bei dir bin ich.«
Die Augen hat er nicht mehr geöffnet. Aber etwas später hat er noch einige Worte gesagt, sein letzter Hauch: »Dein Name sollte Programm sein.«
Vaters Tod befreite mich einerseits von den täglichen Besuchen, anderseits zog er ungeahnte Bürden nach sich. Zeit zum Nachdenken blieb nicht. Als ich einmal Unbrauchbares in Kehrichtsäcke drückte, kam ich mir selber wie ein Abfalleimer vor. Ich quetschte das Zeug schlussendlich mit aggressiver Wucht in die Tiefe, und als dabei ein Plastiksack riss, setzte ich mich zwischen den Unrat und schrie.
Meine Mutter, die mit ihrem neuen Mann in Bayern lebt, ließ sich bei der Beerdigung durch eine Cousine vertreten. Viele waren wir am Begräbnis nicht, das Altersheim hatte Vaters verbliebene Freunde zunehmend verscheucht. Christian schickte weiße Rosen; der Beileidsgruß trug die Handschrift seiner Sekretärin.
So bescheiden Vaters Häuschen auch war, samt Garage und Werkstatt, Dachboden und Keller wurde es zu einem Labyrinth, dessen Ausgang ich erst nach Wochen fand. Die gemeinnützigen Vereine waren gerade mal an seinem Subaru, dem alten Sekretär und einer Bibel aus dem vorletzten Jahrhundert interessiert. Vaters Schlafzimmer, seine Stube, der gesamte Küchenbereich, Kleider und Werkzeuge – dafür fanden sich keine Abnehmer.
Kaum war alles verschachert, begannen die verschlungenen Wege durch die Bürokratie. Nebenher die Schule mit Konferenzen, Zeugnissen, Schlussfeiern – und schließlich mein Hamlet mit seinem Zynismus:
Schwachheit, dein Name ist Weib
. Womit Christian mich jedoch mehr traf, war seine unverhohlene Freude über das Häuschen und das bisschen Geld, das mir letztlich blieb. »Ja«, sagte ich zu ihm, »du magst recht haben, dass wir alle Materialisten sind, aber du bist ein unerträglicher Geldsack geworden!« In einem Anfall von Selbstmitleid stieß ich ihn aus meinem Bett. In seiner Wohnung war er später nicht erreichbar. Die ganze Nacht über konnte ich ihn nicht erreichen, nicht sagen, dass sein hysterisches Weib zum Canossagang bereit war.
Mein Getue erinnerte mich später an meinen Vater, der sich mit seinem cholerischen Temperament gründlich ins Abseits gebracht hatte. In jener Nacht fühlte ich mich ihm eng verbunden. Auch ich war im Abseits, verlassen, wie er es gewesen sein musste nach dem Weggang meiner Mutter, unverstanden – ich teilte Vaters Einsamkeit in jenen dunklen Stunden mit ausufernder Sentimentalität. Mit Flaschen aus der Bar trank ich mich ins Elend. Als ich erwachte, auf der Couch im Salon, ging es gegen Mittag, es war kein Sonntag, bloß ein gewöhnlicher Donnerstag. Ich rief in der Schule an und meldete mich krank. Am Boden lag ein Block herum, auf dem stand in meiner Schrift, wenn auch durch die Umstände entstellt:
Schwachheit, dein Name ist Felizitas
. Da fiel mir Vaters letzter Satz wieder ein: »Dein Name sollte Programm sein.« Endlich begriff ich seine Bedeutung: Nomen est omen. Diese lateinischen Worte waren meinem Vater nicht geläufig. Wohl aber die Bedeutung meines Namens. Namen haben ihn zeitlebens fasziniert, dafür hatte er sich schon als junger Mensch mehrere Lexika angeschafft. Um gewisse Wörter zu verstehen, konnte er sich in seinen Büchern wie ein Maulwurf in die Tiefe graben.
Nachdem ich ausgenüchtert war, ging ich zu Vaters Grab und entschuldigte mich für meine Unfähigkeit, glücklich zu sein.
Kurze Zeit nach Vaters Tod starb Sonja. Er war siebenundsiebzig geworden, sie war kaum siebzehn.
Ich habe von Vaters Alter bald die Hälfte hinter mir. Die Jahre mit ihrem normalen Lauf: Du gehst zur Schule, alberst
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