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Yolo

Yolo

Titel: Yolo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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habe den ganzen Tag geschlafen. Ich bleibe noch ein bisschen unterm Sternenhimmel. Komm, gib mir einen Gutenachtkuss.«
    Tibor ist zu früh, er sitzt bereits im Foyer, als ich aus dem Aufzug trete. Seine vergammelte Erscheinung erstaunt mich wenig. Erstaunlicher und erschreckender ist sein Gesichtsausdruck; Tibor wirkt so bedrückt, als müsste er mir eine schlimme Nachricht überbringen.
    Kaum haben wir zusammen ein paar Schritte im Park getan, platzt es aus ihm heraus: »Ich lebe, und Sonja ist tot. Ich kann mich damit nicht abfinden.«
    »Glaubst du, sie habe sich das Leben genommen … Ich meine, könnte es sein, dass sie nicht mehr weiterleben wollte?«
    Tibor antwortet nicht. Ich steigere mich in die Gewissheit hinein: Er will mir ein Schuldgeständnis abringen und mich zur Verantwortung ziehen. Ungeduldig weicht er auf dem schmalen Weg zwei Patienten aus.
    »Können wir irgendwo hin, wo wir nicht ständig Kranke kreuzen?«, fragt er mürrisch.
    Ich führe ihn in den alten Paradiesgarten. Hier setzen wir uns auf einen umgefallenen Baumstamm.
    »Darf ich Sie duzen?«
    »Klar.«
    »Also.« Er nimmt das Stück eines Astes auf und wirft es in den Tümpel. »Also«, beginnt er von neuem. »Da war doch dieser Orientierungslauf.«
    »Ja.«
    »Sonja und ich haben uns an jenem Nachmittag versöhnt. Deshalb wollten wir zu ihrem Lieblingsfleck, weißt du, der Platz bei der Pfeifhöhle, oben hinter den Felsen. Dort wollten wir unsere wiedergeborene Liebe besiegeln. Dazu ist es dann allerdings nicht gekommen …«
    Tibors Stimme versagt. Nachdem er sich wieder gefangen hat, fährt er fort: »In ihrem Übermut wollte Sonja schräg über die Felswand hinaufklettern. Da sich meine Latschen nun wirklich nicht fürs Felsige eigneten, begann ich um die Felswand herum hoch zu laufen. Ich bin zuerst oben, rief ich ihr noch zu. Und dann … Dann hörte ich plötzlich einen Schrei, so furchtbar grell, aber auch so furchtbar kurz, grausam. Ich kann tun, was ich will, immer wieder höre ich seither diesen Schrei, mitten in der Nacht, unter der Dusche, beim Fußballspiel, überall.«
    »Wie hast du reagiert?«
    »Innert Sekunden war ich wieder an unserem Ausgangspunkt. Sonja lag rücklings zwischen Wurzeln und Gestein, ihr Kopf war voller Blut und ganz unnatürlich gegen hinten geknickt, über der Schläfe klaffte eine riesige Wunde, und augenblicklich wusste ich: Sie ist tot. Trotzdem flehte ich sie an, etwas zu sagen, mir ein Lebenszeichen zu geben. Nichts. Ich rannte los, um Hilfe zu holen. Die Abkürzung durch den Bach gelang mir nicht, weil das Wasser zu hoch und zu heftig war, also machte ich kehrt – und da sah ich von weitem, wie sich ein Mann über Sonja beugte. Das war jener Waldarbeiter, den sie auch bei der Beerdigung erwähnt haben.«
    Weil ich nichts sage, kommt Tibor zum Schluss der furchtbaren Geschehnisse: »Ich habe mir dann die Nacht im
Twenty-Club
um die Ohren geschlagen. Bei Tagesanbruch lief ich wieder an den Unglücksort. Dort legte ich mich ungefähr so hin, wie Sonja gelegen hatte, schluchzte und hoffte einzuschlafen, um beim Aufwachen zu sehen, dass alles nur ein schrecklicher Traum gewesen ist. Aber als ich aufwachte, wusste ich: Sonja ist tot, und ich bin Schuld daran.«
    »Rede keinen Unsinn, Bori.«
    »Es ist doch so: Hätte ich sie nicht zu einem Wettlauf animiert, wäre sie sorgfältig durch die Felsen geklettert, es ist ja nicht sonderlich gefährlich dort, und sie würde noch leben.«
    »Bori, hör auf. Dich trifft nicht die geringste Schuld. Ganz im Gegenteil, es sollte dich trösten, dass ihr vor Sonjas Tod wieder zueinander gefunden habt.«
    Unser Gespräch hatte danach einen einseitigen Verlauf genommen. Mein Schüler sagte nicht mehr viel, ich umso mehr. Dabei geschah etwas Sonderbares. Während ich auf Tibor einredete und auf jede Weise versuchte, ihn von seiner fatalen Selbstbeschuldigung zu befreien, entlastete ich – unbewusst – auch mich selbst. Ich bemerkte das, nachdem ich ihn zum Bahnhof gefahren und verabschiedet hatte. Wohl hatte ich auf der Rückfahrt alle Scheiben offen, aber der Wind blies mir nicht nur ins Haar und ums Gesicht. Ich spürte die frische Luft in jeder Herzensfaser, sie durchströmte meinen ganzen Körper, bis in die Fingerspitzen und in die Füße.
    Wie ich das mit dem befreiteren Atmen nun dem Psychiater erzähle, bucht er es, ohne nach möglichen Gründen zu fragen, als seinen Erfolg ab. Mir ist es recht, Sonja und Tibor gehen ihn nichts mehr an. Oder nur so viel:

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