Yolo
an ein Weiterleben nach dem Tod?«
»Nein, nein, längst nicht mehr.«
»Ich auch nicht. Als Katholik, erst noch mit einem Paten, der Priester war, habe ich mich allerdings viele Jahrzehnte gegen den Atheismus gewehrt. Und wissen Sie, wer dem alten Knacker den letzten Stoß in die Freiheit gegeben hat? Mein Enkel!«
»Sie haben sogar Enkel, und ich habe nicht einmal Kinder.«
»Aber Sie sind Lehrerin und im ständigen Kontakt mit jungen Menschen, die …«
»Sich umbringen.«
Obwohl der väterliche Freund taktvoll das Thema zu wechseln versucht, erzähle ich ihm von Sonja und ihrem Selbstmord.
»Bitte versuchen Sie nicht, mir meine Schuld auszureden, das hat gar keinen Wert«, füge ich meiner Beichte bei.
»Wie käme ich dazu, mich Ihnen aufzudrängen.«
Die Sonne ist weg, DeLauro knüpft seinen Sakko zu, stellt den Kragen hoch, greift in der Tasche nach Zigaretten: »Ausnahmsweise auch eine?«
»Danke, lieber nicht. Ist Ihnen kalt, sollen wir hineingehen?«
»Ja, bald. Vorher möchte ich Ihnen noch etwas anvertrauen.«
»Gern.«
»Ich habe mir in meinem langen Leben mehr als ein Mal Schuld aufgeladen. Durch Frauengeschichten habe ich nicht nur meine Ehe zerstört, sondern auch meine zwei Söhne verloren. Meinen Enkel habe ich erst kennengelernt, als seine Mutter verstarb, vierzehn war er damals. Mein Sohn hatte die beiden schon kurz nach der Heirat verlassen. Nach der Trennung von Frau und Kindern spielte ich erst recht den Lebemann … bis
la dolce vita
abrupt endete. Stellen Sie sich das vor: Weil ich versagte, musste ein Patient bei einer fast harmlosen Operation sterben. Zwar entfiel auf den Assistenten eine gewisse Mitschuld, aber die Hauptverantwortung lag bei mir. Meine Exfrau war unterdessen Alkoholikerin geworden, der ältere Sohn der Spielsucht verfallen, und der Zweitgeborene hatte sich eh abgemeldet. Und ich? Ich war frühzeitig verbraucht, wurde krank. Unheilbar. Aber ich mache erst Schluss, wenn die Schmerzmittel nur mehr Betäubung bedeuten. Noch liebe ich die Gegenwart, das Essen und Trinken, die Geselligkeit. Ich kann mit Ihnen hier reden …«
DeLauro blickt zu mir, als müsste er sich versichern, dass ich noch zuhöre.
»Ihre Lebensgeschichte tönt traurig. Und trotzdem.«
»Trotzdem?«
»Ja, um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob Sie mir damit etwas sagen wollten, das mich angeht.«
»Was ich Ihnen, liebe Felizitas, sagen möchte: Auf dieser Welt ist doch niemand ganz ohne Schuld. Wir sind keine Heiligen! Vergeuden Sie die Kräfte, die Sie haben, nicht an Unabänderliches. Das Leben ist, was wir aus ihm machen. Es gibt in jeder Biografie Dinge, die definitiv gelaufen sind. Ich glaube nicht einmal, dass man aus Fehlern groß lernen kann. Was ich meine: Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, so lange wir aber am Leben sind, haben wir die Chance …«
»Zu was?«
»Zu einem Perspektivenwechsel.«
DeLauro zieht ruhig und lange an seiner Zigarette, fährt fort: »Wie wir etwas betrachten, unser eigener Blickwinkel ist ausschlaggebend. Korrekturen und Veränderungen sind nur möglich, indem wir unsere individuelle Begrenztheit akzeptieren.«
»Sie reden wie ein Philosoph.«
»Sie haben Recht, entschuldigen Sie. Das ist das Alter. Plötzlich gerate ich ins Plaudern. Meinem Enkel gehe ich damit manchmal auch auf die Nerven.«
»Sie gehen mir nicht auf die Nerven. Ganz im Gegenteil, Signore DeLauro, ich habe Ihnen gerne zugehört.«
»Kommen Sie, Felizitas, es ist kühl geworden. Wir wollen hineingehen.«
Obwohl sich mein Zimmer eine Etage höher befindet, steige ich zusammen mit DeLauro aus dem Aufzug. Hier sind keine Rollatoren geparkt, hingegen kommen zwei Stühle neben dem Treppenaufgang meinem Vorhaben entgegen.
»Können wir uns kurz da hinsetzen? Ich möchte Ihnen nämlich eine letzte Frage stellen, sie ist zwar etwas intim …«
»Wissen Sie nicht, was man uns Italienern nachsagt? Dass es für uns keine intimen Fragen gibt! Denn wir haben das Herz ohnehin auf der Zunge. Also bitte.«
DeLauro wartet, bis ich mich gesetzt habe. Einen Moment lang bin ich durch das Bild, das wir beide abgeben, irritiert: Zwei Patienten auf zwei Holzstühlen im Korridor, zweite Etage, neben dem noblen Herrn ein Schiebkarren mit Putzmitteln … Und sie reden über den Sinn des Lebens!
»Wie meinten Sie das mit dem Perspektivenwechsel?«
«Nun, je nachdem, wo wir stehen, haben wir doch einen gewissen Blickwinkel, und normalerweise begnügen wir uns damit und richten uns
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