You are Mine
grinsend, um den Hals einen blauen Wollschal gewickelt, dessen Enden im Wind wehen. Eine fahle Hand hat sie in die Hüfte gestemmt, in der anderen hält sie etwas Weißes. Es kann ein Taschentuch sein oder einfach nur ein Zettel.
»Ich dachte erst, es wäre auch Madigan«, sagt Ruth. »Aber es ist nicht ganz ihr Gesicht, oder? Und diese Frau ist älter.«
»Es ist ihre Mutter. Katherine.« Ich spüre bei der Erwähnung ihres Namens, bei dem Anblick von ihr, als sie noch am Leben und glücklich war, ein Aufflackern von Trauer. Es ist ein quälender Blick auf die Frau, zu der Madigan hätte werden können. Früher einmal. »Wie kann man jemanden zugleich hassen und lieben?« Ich stelle die Frage eigentlich mir selbst; Ruth drückt meine Hand. »Das ist es also? Das ist ihr Geheimnis? Madigan wollte mein Leben für sich selbst ein wenig einfacher machen – keine große Überraschung.«
Aber Ruth greift über den Tisch nach ihrer Tasche und erklärt, dass es noch etwas gibt, was ich sehen muss. Zuerst war sie sich nicht sicher, was es bedeutet, warum es überhaupt zusammen mit dem Rest des Zeugs im Spind war, aber inzwischen glaubt sie, es verstanden zu haben.
Der Briefumschlag in ihrer Hand ist an jemanden namens Trang Nguyen adressiert, was mir nicht das Geringste sagt. Aber darin finde ich einen weiteren Pass, ebenfalls erst ein paar Wochen alt. Der junge Mann auf dem Bild ist mir nur allzu vertraut. Joaquin. Trotz der nach hinten gestrichenen glatten schwarzen Haare und des weißen Hemds ist es ohne Zweifel er. Ich starre den Pass stirnrunzelnd an, ohne dass mir eine Erklärung dafür einfällt.
»Du hast recht«, sage ich. »Es passt nicht zum Rest des Zeugs.«
»Außer …« Ruth leckt sich die Lippen, ob aus Nervosität oder Aufregung, kann ich nicht sagen. »Außer, du bist nur die Abschussrampe? Was ist, wenn sie vorhat, in ihn zu wechseln, sobald sie mit dir fertig ist?«
Ehrgeiziges kleines Mädchen.
Absolute Freiheit, die Möglichkeit, beliebig von Körper zu Körper zu wechseln. Und wenn man das voraussetzt, kann man unmöglich vorhersagen, wie viele Leben sie vielleicht ruinieren wird. Keine Haftung, keine Verantwortung, keine Konsequenzen, die zu tragen sind. Und kein Tod. Kein Tod. Das ist zu viel Freiheit für einen Einzelnen und besonders für Madigan.
Ruth nimmt mir Joaquins Pass ab und studiert das Gesicht des Jungen. »Glaubst du, er hat eine Ahnung? Ich meine, von Madigan? Wenn wir versuchen, ihn zu warnen, würde er uns glauben?«
Hey, Moment. »Was meinst du damit? Dass du mir jetzt glaubst?«
»Schau dir das alles an.« Sie wedelt mit der Hand über dem Tisch. »Allzu viele Möglichkeiten gibt es nicht mehr.«
Schmerz.
Plötzlich und glühend dringt er bis ins Zentrum meines Gehirns vor, weißes Rauschen erfüllt meine Ohren und der Raum fängt an sich zu drehen. Mit Mühe gelingt es mir, Ruth anzusehen und die Worte hervorzupressen: »Sie ist es. Geh, nimm all dieses Zeug und verschwinde.«
»Nein.« Sie packt meine Hand und drückt sie so fest, dass meine Knochen knirschen.
»Ruth, bitte. Ich kann nicht.«
»Kämpf gegen sie, Alex, sie ist nichts anderes als ein Parasit, ein Blutegel. Du musst sie nicht übernehmen lassen, du bist stärker.« Sie lehnt sich vor, schiebt ihr Gesicht direkt vor meines und scheint durch mich hindurchzustarren, konzentriert auf etwas hinter meinen Augen. »Hörst du das, du Möchtegern-Bandwurm? Du bist nichts, du bist tot.«
Dann spricht Ruth wieder mit mir, erklärt mir, ich solle sie bekämpfen, mit aller Macht bekämpfen, und ich gehorche, kämpfe, stemme mich gegen die Macht, die bei jedem Atemzug mit Gewalt ihren Weg zu bahnen droht. Das gläserne Klirren ihres Lachens erfüllt meinen Kopf.
du bist derjenige, der nichts ist, Lexi. und deine neue Freundin wird weniger sein als nichts, sobald ich mit ihr fertig bin
Der Angriff macht mich wütend, und das setze ich als Waffe ein. Ich sammle jedes letzte Gefühl in mir, Wut, das Gefühl des Verrats und die letzten Reste meiner Liebe, und winde es zusammen, um es als Waffe gegen sie einzusetzen, Madigan mein, o mein. Ich stemme mich gegen die Hauptmacht ihres Angriffes und schlage zurück, suche ihre Schwachpunkte, um Land gutzumachen, und drücke gegen sie, bis endlich etwas nachgibt und sie mit einem wütenden, ungläubigen Zischen verschwindet, das in meinem Kopf nachhallt. Aber es passiert zu schnell, als hätte ich mich gegen eine Tür gestemmt, die von der anderen Seite aufgerissen
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