You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
Hinweis auf ihr Gespräch konnte ich der Rede entnehmen, die er 2001 an der Universität Oxford hielt: „Früher dachte ich immer, ich sei der Einzige, der glaubte, keine Kindheit gehabt zu haben. Ich war der Auffassung, dass es nur eine Handvoll Menschen gab, mit denen ich dieses Gefühl teilen konnte. Als ich kürzlich Shirley Temple kennenlernte … zuerst sagten wir gar nichts zu einander, wir weinten nur zusammen, denn sie teilt einen Schmerz mit mir, wie ihn sonst nur meine engen Freunde Elizabeth Taylor und Macaulay Culkin kennen.“
Wir alle waren damit aufgewachsen, dass die Uhr unser Leben diktierte und wir Stress hatten, egal, ob es um die festgelegten Zeiten für Proben ging oder um die Sperrstunde auf Tournee, ob um Veröffentlichungstermine für neue Alben oder die Anfangszeiten von Konzerten in dieser oder jener Stadt. Die Zeit beherrschte uns, oder vielmehr, wir versuchten, ihr davonzulaufen, aber niemand von uns hörte das Ticken der Uhr so laut wie Michael. Wenn er gerade nichts Konstruktives tat – was selten vorkam –, dann fühlte er sich schlecht. Zwar redete er oft davon, dass man ihm die Kindheit gestohlen habe, aber später setzte er sich selbst unter Druck und ließ nie locker. Videospiele betrachtete er als Zeitverschwendung, und Ausruhen war für ihn Faulheit. Er wollte seinen Geist stets mit neuen Ideen füttern, statt ihn zu betäuben. Und wenn das nur bedeutete, dass er ein Buch las. „Ich kann nicht einfach nur herumsitzen“, erklärte er, und er sagte oft, dass der Tag gar nicht genug Stunden habe, um all die Ideen und Gedanken auszuarbeiten, die ihm einfielen.
Als er mit der Arbeit an dem Album Thriller begann, steigerte sich das beinahe zur Besessenheit. Wenn er mit Quincy Jones zusammen an den Songs feilte, dann gab es nichts anderes mehr für ihn. Er arbeitete sowohl im Westlake Studio in Hollywood als auch in Hayvenhurst (das Studio dort war von den Umbaumaßnahmen nicht betroffen); hier setzte er die ersten Ideen um. Allein. Auf diese Weise konnte Michael das Feeling des Albums einfangen, wie er es im Kopf hatte, die ersten kreativen Ideen verfolgen, die zur Basis des fertigen Produkts wurden. Ganz egal, wie viele Musiker später daran mitwirkten, er kam immer wieder auf die ursprüngliche Idee für den Sound und den Song zurück und spielte das den anderen vor, damit sie wussten, in welche Richtung er gehen wollte.
Wir wussten, dass er Raum brauchte, um seine künstlerische Vision zu verwirklichen, und deswegen sahen wir 1982 kaum etwas von ihm; er forderte sich bis an den Rand der Erschöpfung, um Thriller fertigzustellen. Aber als er dann das fertige Album zum ersten Mal hörte, war er am Boden zerstört. Das Feeling stimmte nicht, und die Endabmischung war nicht gut. „Es war, als hätte man einen großartigen Film am Schneidetisch ruiniert“, schrieb er in seiner Autobiografie.
Das Team, das so eng mit ihm zusammenarbeitete, kannte seine kreativen Vorstellungen sicherlich am besten. Ihrer Meinung nach klang Thriller wahrscheinlich enorm stark und ehrgeizig, egal, welche Bedenken Michael selbst haben mochte. Aber Michael war eben jemand, der einen Titel x-mal aufnehmen und immer wieder verwerfen konnte – und genau das machte er, als alle anderen bereits davon ausgingen, Thriller sei perfekt und reif zur Veröffentlichung. Er selbst berichtete: „Als wir uns schließlich die ausgewählten Stücke anhörten, klang Thriller so beschissen, dass mir die Tränen in die Augen traten.“ Und daraus folgerte er: „Das war’s. Wir werden es nicht veröffentlichen.“ Er erzählte später gern, dass er aus dem Studio in Westlake gerannt sei, sich das Fahrrad eines Mitarbeiters geliehen habe und, so schnell er konnte, die Straße entlanggerast sei, als ginge es darum, dem Zorn zu entfliehen, den er in sich fühlte. Schließlich kam er an einem Schulhof vorbei, auf dem Kinder spielten, und er hielt an. Ihr Lachen und ihre Unschuld, sagte er später, rückten ihm den Kopf wieder zurecht, und er fuhr mit einem neuen Gefühl von Inspiration zurück. Voller Elan stürzte er sich erneut auf Thriller . Einen Monat später war er fertig – er war bis an die äußerste Grenze seiner Phantasie und seiner kreativen Möglichkeiten gegangen, um der Welt einen Klassiker zu schenken.
Thriller erschien im November 1982 und explodierte geradezu. Das Album stand 37 Wochen lang an der Spitze der amerikanischen LP-Charts und verkaufte sich in einer Woche 50 000 bis 100 000 Mal. Aber
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