You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)

wollte wissen, ob etwas nicht stimme. Ich konnte ihr nicht antworten, denn mir fehlten ganz einfach die Worte. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken, und ich musste gegen Schwindelgefühle ankämpfen. Michael hatte meine Begeisterung für das Projekt geteilt. Warum sollte er dieselben Produzenten engagieren? Warum hatten LaFace Records nicht den Anstand besessen, mich frühzeitig zu informieren – schließlich war ich bei ihnen Verpflichtungen eingegangen? Warum hatte sich das alles hinter meinem Rücken abgespielt, während ich nichtsahnend in Atlanta ausharrte? Diese Fragen blieben in den folgenden Wochen unbeantwortet. Ich hörte weder von den Produzenten noch von meinem Bruder ein Sterbenswörtchen. Im Rahmen meiner Bemühungen, zu einem besseren Menschen zu werden, vertiefte ich mich in die Lehren des Koran. Intensiv befasste ich mich mit der Hadith, der religiösen Unterweisung durch den Propheten Mohammed, und rezitierte die Stellen wieder und wieder. „Der Starke ist nicht der, der andere Menschen durch seine Kraft überwältigt, der Starke ist der, der seine Wut bändigen kann.“ Doch wie bei allen religiösen Unterweisungen nützt es nichts, die Worte zu wiederholen – man muss sie leben und in die Tat umsetzen.
    Da ich bei LaFace Records unter Vertrag stand und bei Arista ein Album abliefern musste, blieb mir nichts anderes übrig, als auf meine Produzenten zu warten und mich an den bitteren Beigeschmack zu gewöhnen. Als sie schließlich für die Aufnahmen bereit waren, stellte sich schnell heraus, dass Michael sie verärgert hatte. Ich weiß nicht, was die beiden im Studio erwarteten, aber mit Sicherheit rechneten sie nicht mit der Anwesenheit von Michaels bevorzugtem Produzenten und Tontechniker Bruce Swedien. Mein Bruder bestand darauf, dass dieser bei Aufnahmen immer hinter dem Mischpult saß. Das Beharren darauf führte vermutlich zu Unstimmigkeiten mit L.A. Reid und Babyface. Sicherlich schmeckte ihnen auch die Tatsache nicht, dass Michael an keinem ihrer Songs weiterarbeiten wollte. Wahrscheinlich war das für sie wie eine schallende Ohrfeige. Darum erzählten mir die beiden während eines Telefonats von dem speziellen Hook des Songs „Word To The Badd“, den sie schon für mich geschrieben hatten. Wegen der darin angesprochenen Selbstbezogenheit und Egozentrik fand der Text auch bei mir einen deutlichen Widerhall.

    It ain’t about your world
    It ain’t about the things you do
    If you don’t care, I don’t care
    You keep thinking about you
    You been taking all of my pie
    You been taking for a long time …

    Die Zeilen, die sie im Zorn verfasst hatten, drückten meine immer noch schwelende Wut auf Michael aus. Doch nicht nur das: Ich erkannte darin die aufgestaute Energie, da ich immer noch nicht im Studio gewesen war, vereint mit einem tiefen Gefühl erlittener Ungerechtigkeit. Das wirkte wie ein emotionaler Sturm, bei dem niemand mehr besonnen nachdachte, sondern den Emotionen freien Lauf ließ. Eine Studio-Session eignet sich hervorragend, um unterdrückten Gefühlen freien Lauf zu lassen. Musik kann in dieser Hinsicht kathartisch wirken. Ich wäre nicht der erste Künstler, der sich mit der Intention vor ein Mikro stellt, sich freizusingen. Wahrscheinlich ist das einer meiner Charakterzüge – statt Michael direkt auf die Problematik anzusprechen, verarbeite ich den Ärger allein.
    Einen Text zu schreiben ist eine Sache, ihn allerdings als Single auf den Markt zu bringen eine andere, die in diesem Fall besondere Brisanz besaß. Ich vergleiche das mit dem Führen eines Tagebuchs: man drückt seine Gefühle aus. Im Moment des Schreibens glaubt man daran, denkt aber nicht im Traum daran, sie zu veröffentlichen. Als ich im Studio ankam, wurde mir der fertige Song von L.A. Reid und Babyface präsentiert. Die beiden hatten eine spezielle Strophe verfasst:

    Reconstructed
    Been abducted
    Don’t know who you are
    Once you were made
    You changed your shade
    Was your colour wrong?

    Es war ein klarer Seitenhieb auf Michael, und ich wusste das. Diese Zeilen waren auf eine verzerrte Wahrnehmung meines Bruders zurückzuführen, und ich konnte der Aussage nicht zustimmen. Allerdings teilte ich die aggressive und ungezügelte Grundstimmung. Ich stürzte mich in einen geheimen Rachefeldzug. Als das Textblatt in meinen Händen lag, sang ich mit Wut im Bauch und befreite mich von meinem Frust und meiner Enttäuschung, so dass Therapeuten Beifall geklatscht hätten, nicht aber die Fans von