You are not alone - Mein Bruder Michael Jackson (German Edition)
eigenen „Fluchtpläne“, während wir uns durch den zähflüssigen Verkehr auf die George Washington Bridge zubewegten. Als wir langsam davonfuhren, schaute ich zurück und sah den durch die Luft ziehenden Rauch, der für mich das Böse symbolisierte. Ich fand es beinahe unmöglich, diese neue Realität zu verstehen, doch war erst einmal glücklich, dass wir uns alle auf dem Heimweg befanden, Meile um Meile, Staat für Staat.
Michael wollte unbedingt etwas für die Opfer des 11. September unternehmen, grub in seinem Archiv und fand den unveröffentlichten Song „What More Can I Give?“, den er nach den Unruhen in L.A. 1992 geschrieben hatte. Er wurde dabei von Rodney King inspiriert, dem Schwarzen, der von der Polizei misshandelt wurde, wonach es zu Ausschreitungen kam. Lange Jahre nannte Michael das Stück „Heal L.A.“. Es gehörte zu den Songs mit einer universellen Botschaft, weshalb Michael den Titel in der Hoffnung, Gelder für die Hinterbliebenen und Opfer aufzubringen, wieder hervorholte. Dieser Aufgabe widmeten sich schließlich Céline Dion, Gloria Estefan, Beyoncé, Mariah Carey und Usher gemeinsam. Sie drückten die Botschaft des Songs ähnlich überzeugend und zeitgemäß aus wie Michael, der die Musik mit der Welt teilen wollte. Doch Sony stellte sich dem Vorhaben in den Weg, und so kam es zu keiner Veröffentlichung. Das Stück wurde zwar einige Male im Radio gespielt, konnte aber seine volle Wirkung nicht entfalten. Es war eine verrückte Fehlentscheidung, durch die Michael immer stärker das Gefühl bekam, dass man solche taktischen Entscheidungen dazu benutzte, ihn kommerziell kaltzustellen.
Langsam, aber sicher enthüllte er uns mehr über die Arbeitsbeziehung zwischen ihm und dem neuen Sony-Chef Tommy Mottola sowie über die Abläufe in einem Riesenunternehmen, dessen Teilhaber er war. Wie sich in der Zukunft zeigen sollte, stellten sich die Entscheidungen, die Michaels Song zum 11. September verhinderten, erst als Anfang vieler Probleme heraus, mit denen mein Bruder fertigwerden musste.
Doch zuerst stand ein Familientreffen in Hayvenhurst auf dem Plan, um ein wichtiges Thema anzuschneiden.
Seit dem 30th Anniversary Special munkelte man oft über Michaels Gesundheit. Einigen Familienmitgliedern waren in New York bestimmte Eigentümlichkeiten aufgefallen, und die Vermutung lag nahe, dass er wieder mit seiner Medikamentenabhängigkeit kämpfte. Mir fiel nichts Besorgniserregendes auf, doch rückblickend betrachtet stellte ich ein eigentümlich distanziertes Verhalten seinerseits fest – ein anderes Hotel, eine andere Garderobe und die wenige Zeit, die er mit uns verbrachte (nach der Show und bei den Proben). Zuerst schrieb ich das dem Freiraum zu, den Michael benötigte, doch dann erklärte mir ein ihm Nahestehender, dass er uns nicht in seiner Nähe haben wolle. Darüber hinaus trug er gewissen Personen auf, seinen Brüdern und Schwestern nichts über seinen Zustand zu verraten. Das betraf die Nanny, bestimmte Angestellte, sein Management und die Leibwächter. Plötzlich wurde mir alles klar! Ich habe gelernt, dass Menschen, die sich in Schwierigkeiten befinden und nicht Herr ihrer Lage sind, ihnen Nahestehende am ehesten meiden, denn sie können am schnellsten erkennen, dass etwas nicht stimmt. Eine Familie funktioniert nicht wie ein angestellter Jasager oder eine den Musiker verehrende Fanbase.
Als sich diese Gedanken immer stärker aufdrängten, entschloss sich die Familie zum Handeln, und so kam es 2002 zu besagtem Treffen. Bei der folgenden Zusammenkunft war ich nicht dabei, jedoch berichtete man mir alles. Mutter, Jackie, Tito, Randy, Janet, Rebbie und La Toya machten sich gemeinsam mit einem Arzt in den Norden auf, bereit zum Einschreiten. Als sie unerwartet auftauchten, verwehrte ihnen die Security den Eintritt, doch einer der Brüder kletterte über die Mauer und drückte den Schalter zum Öffnen des Tores.
Beim Hauptgebäude angekommen, bemerkten sie nichts Ungewöhnliches. Michael hatte sich mit Prince und Paris zum Pool aufgemacht und hielt sie an der Hand. Die Nanny Grace nahm die beiden beiseite, damit sich alle mit ihrem Vater unterhalten konnten.
Die Konfrontation verlief sehr emotional. Tito vermutete, dass etwas im Argen lag, und bettelte Michael an, die Wahrheit zu sagen. Falls irgendetwas nicht stimme – und das betonte Tito –, solle Michael um Hilfe bitten, denn die Familie sei immer für ihn da. Michael machte einen selbstbewussten und entspannten Eindruck.
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